Anwältin der Gerechtigkeit

Porträt Nasrin Sotoudeh ist Menschenrechtsverteidigerin und Frauenrechtlerin. Dafür sitzt sie im Iran in Haft
Ausgabe 41/2020
Nasrin Sotoudeh 2013 mit ihrem Sohn Nima, nachdem sie aus dreijähriger Haft freigelassen worden war
Nasrin Sotoudeh 2013 mit ihrem Sohn Nima, nachdem sie aus dreijähriger Haft freigelassen worden war

Foto: Berhouz Mehri/AFP/Getty Images

Als die Preisträgerin in Stockholm bekannt gegeben wird, sitzt Nasrin Sotoudeh in Teheran in Haft. Die iranische Anwältin bekommt für ihr „furchtloses Engagement, unter hohem persönlichem Risiko, zur Förderung politischer Freiheiten und der Menschenrechte im Iran“, den alternativen Nobelpreis. „Wie weit kann man gehen, wenn man seine Rechte verteidigen will?“, fragt Nima seinen Vater. Er ist der 13-jährige Sohn von Nasrin Sotoudeh. Kurz zuvor war die Familie bei Nasrin zu Besuch im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis, wo sie ihnen erklärt hat, dass sie in einen unbefristeten Hungerstreik treten wird.

„Unser Sohn war sehr beunruhigt, als er das hörte“, sagt Reza Khandan, Sotoudehs Ehemann, im Interview mit dem Iran Journal. „Als Nasrin aber nach der Meinung der Kinder fragte, haben sie nicht gesagt, dass ihre Mutter es nicht tun solle.“ Khandan ist sich sicher: Hätte eines der beiden Nein gesagt, hätte sie darauf verzichtet.

Sotoudeh brach ihren Hungerstreik wegen „sich verschlechternder Bedingungen“ nach 46 Tagen ab. Als Khandan am 25. September ihre Entscheidung auf Facebook mitteilte, konnten nicht nur Nima, sondern auch freiheitsliebende Menschen in aller Welt, die seit dem 11. August um Sotoudehs Leben bangten, ein wenig aufatmen. Die Anwältin politischer Gefangener war in der letzten Dekade schon mehrmals von den islamischen Sicherheitsbehörden verhaftet worden, unter anderem 2010 wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ und „Propaganda gegen das islamische System“. Damals wurde sie zu elf Jahren Haft und 20 Jahren Arbeits- und Ausreiseverbot verurteilt. 2012 bekam Nasrin Sotoudeh den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments, auch da saß sie im Gefängnis. 2013 wurde sie freigelassen, nach einem langen Hungerstreik und internationalen Protesten.

Die Hüter des Mullah-Regimes verhafteten sie allerdings am 13. Juni 2018 ohne Vorwarnung erneut. Bei der Festnahme sei lediglich ein altes Urteil vorgezeigt worden, so der Ehemann. In ihrer Abwesenheit wurde Nasrin Sotoudeh zunächst zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. In einem erneuten Prozess verhängten die Richter dann aber eine Haftstrafe von 33 Jahren und 148 Peitschenhieben für Anklagepunkte rund um ihren Einsatz gegen den Kopftuchzwang und für Menschenrechte. Wie weit geht eine überzeugte Juristin, die stets staatlichen Repressalien und Unterdrückung ausgesetzt ist, um Menschenrechte zu schützen? Wie hoch ist der Preis für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde? Die Überzeugung, dass Leid, Elend, Schmerz und Ungerechtigkeit nicht nur für einen selbst, sondern für alle etwas Grauenhaftes und Erniedrigendes sind, zieht sich durch Sotoudehs berufliche Biografie.

Die 57-jährige Mutter zweier Kinder hat immer klargestellt, dass sie es sich verbietet, als Frau genau wie als Mensch zum bloßen Objekt des Staates zu werden. Denn nach ihren Wertvorstellungen steht die Bewahrung der Menschenrechte an der Spitze der Normpyramide. Für die Anwältin ist „die Menschenwürde der höchste Gipfel der Menschenrechte“. Nach Sotoudehs Handeln und ihrer Haltung besteht der wahre Gehalt menschlicher Würde in verwirklichten Menschenrechten, einem Leben in körperlicher Unversehrtheit, freiheitlicher Selbstbestimmung und Selbstachtung sowie in sozialer Gerechtigkeit. Im Wertesystem von Nasrin Sotoudeh gibt es keinen Platz für ein Dasein, das von Not, Hunger, Ausbeutung, Gewalt und Folter geprägt ist. So eine Existenz ist für die Juristin nicht vorzugswürdig, Leben und Würde setzt sie in gleichbedeutende Relation. Aus diesem Verständnis von Würde heraus trat sie auch schon damals während ihrer dreijährigen Haftzeit im Evin-Gefängnis insgesamt fünf Monate in mehreren Etappen in den Hungerstreik. Dabei magerte sie bis auf 40 Kilo ab.

Töchter der Revolutionsstraße

Auch im August 2020 war der gesundheitliche Zustand der zierlichen Frau am 43. Tag ihres Hungerstreiks mehr als besorgniserregend. Sie wurde mit Herzbeschwerden in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. „Man hat sie derart abgeschirmt, dass niemand mit ihr in Kontakt treten kann“, schrieb Khandan auf Facebook. Der Grund, warum Sotoudeh in den Hungerstreik getreten war, hat auch mit ihrer ideologisch neutralen Weltanschauung und ihrer Lebenshaltung zu tun. Der persische Dichter Saadie stellt diese Haltung in seinem Lyrikbuch Der Rosengarten so dar:

„Die Menschenkinder sind ja alle Brüder // Aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder // Hat Krankheit nur einzig Glied erfasst // So bleibt anderen weder Ruh und Rast.“

Als Anwältin hat sich Nasrin Sotoudeh ihr ganzes Berufsleben dafür eingesetzt, dass die Allgemeinheit ein würdevolles Dasein leben kann. Der konkrete Anlass für ihren letzten Hungerstreik waren die Haftbedingungen in der Corona-Pandemie. Sie verlangte wegen der steigenden Ansteckungsgefahr in den iranischen Gefängnissen die Freilassung aller politischen Gefangenen. Tatsächlich hat die iranische Justiz inzwischen zahlreiche Inhaftierte entlassen; Sotoudeh und andere Bürgerrechtler*innen wurden aber von der islamischen „Gnade“ ausgenommen und blieben weiter in Haft.

Sotoudeh setzt sich insbesondere für die Gleichberechtigung von Frauen im Iran ein und war unter anderem als Anwältin für die von der iranischen Justiz verfolgte und inzwischen exilierte iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi tätig. Vor ihrer Verhaftung verteidigte Sotoudeh zuletzt überwiegend die „Töchter der Revolutionsstraße“. Also Frauen, die im März 2018 in verschiedenen Städten gegen den Kopftuchzwang protestiert hatten. Sie wurden der „Verdorbenheit“ bezichtigt, weil sie in der Öffentlichkeit ihre Kopftücher abnahmen. Die meisten von ihnen berichteten von brutalen Misshandlungen während des Gewahrsams. Die 32-jährige Informatik-Studentin Maryam Shariyatmadari war eine von ihnen. Was die ultrakonservative geistliche Führung des Iran beunruhigt hatte, waren Maryams dichte, lockige Haare. Ein in sozialen Netzwerken veröffentlichtes Video zeigte sie vor ihrer Verhaftung am 24. Februar, wie sie friedlich gegen den Kopftuchzwang protestierte. Plötzlich tauchten Sicherheitskräfte auf und stießen sie von dem Verteilerkasten, auf dem sie ihr Kopftuch an einen Stock gebunden in die Höhe hielt, gewaltsam herunter. Dabei wurde ihr rechtes Bein gebrochen. Maryam wurde von einem Teheraner Gericht zu einem Jahr Haft verurteilt. Die steinalten iranischen Mullahs legen die Protestaktion der „Töchter der Revolutionsstraße“ als „Zurschaustellung der Nacktheit“ aus. In ihrer von männlicher Fantasie geprägten Wertvorstellung ist eine Frau ohne Kopftuch „nackt“. Der Urheber dieser Bezeichnung in der islamisch-iranischen Terminologie war Ayatollah Ruhollah Khomeini, der Begründer der Islamischen Republik: Nur wenige Wochen nach seiner Machtübernahme verkündete er am 7. März 1979, dass Frauen zwar künftig arbeiten und aus dem Haus gehen dürften, aber nicht „nackt“ (d. h. ohne Kopfbedeckung). Einen Tag danach protestierten Tausende Beamtinnen, Studentinnen und Schülerinnen auf den Straßen. Sie riefen: „Keine Rückschritte! Fortschritte zu erzielen, war unser Motto bei der Revolution!“

148 Peitschenhiebe

Seit fast 41 Jahren kämpfen Frauen im Iran nun gegen die islamischen Kleidervorschriften. Bis dato haben die Sittenwächter*innen alles Mögliche versucht, um die Vorschriften gewaltsam durchzusetzen: durch lange Haftstrafen, Ausreise- und Berufsverbote sowie die mittelalterliche Strafe der Peitschenhiebe. Auch Nasrin Sotoudeh, die mittlerweile als „Ikone der Frauenbewegung Irans“ bezeichnet wird, soll mit 148 Peitschenhieben auf den richtigen Weg geführt werden, damit sie die Frauen, die angeblich „Nacktheit im öffentlichen Raum“ propagieren, nicht mehr verteidigen kann. Wird sie sich dadurch einschüchtern lassen?

„Solange ich frei bin, ist es meine Aufgabe, Menschen zu ihrem gesetzlich festgeschriebenen Recht zu verhelfen“, sagt Sotoudeh in einem Interview. Wie weit geht eine Juristin, um in diesem Sinne sich und ihre Mitstreiterinnen zu verteidigen? Im März 2011 schrieb sie an ihren Sohn aus dem Gefängnis: „Ich möchte, dass du weißt, dass ich als Frau stolz auf die schwere Strafe bin, die gegen mich verhängt wurde. Das war eine Ehre für mich, viele Menschenrechtsverteidiger zu verteidigen. Die unermüdlichen Bemühungen der Frauen haben endlich bewiesen, dass wir nicht länger ignoriert werden können.“

Fahimeh Farsaie, im Iran politisch verfolgt, ist Journalistin, Schriftstellerin und Juristin. Seit 1983 lebt sie in Deutschland

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