Die kalten Stellen

Mittäter und andere Verbrecher In Köln wurde Lars Norens Stück "Kälte" aufgeführt, das den wahren Fall einer rassistischen Gewalttat in Schweden behandelt

Was machen rechtsorientierte Teenies in Schweden, wenn sie sich langweilen? Richtig, so ziemlich genau das, was deutsche rechtsradikale Jungs auch tun: sie besaufen sich, grölen rassistische Parolen und spielen mit ihrem zufällig angetroffenen Opfer "Katz und Maus". Es ist kein Zufall, dass dieses Spiel in fast allen Fällen tödlich ausgeht, wie eben auch der authentische Fall, der sich am 12. Juli 2002 in einem Dorf unweit von Göteborg ereignet hat. Der 61-jährige skandinavische Dramatiker Lars Noren hat den Fall in einem Stück rekonstruiert, in dem drei Gesinnungskameraden einen ihrer Mitschüler koreanischer Abstammung aus rassistischen Gründen umbringen. Das Drama trägt den Titel Kälte, obwohl es am Tag des Verbrechens sehr heiß war; es war der letzte Schultag für Keith, Anders und Ismael. Das ist nicht der einzige Punkt, der sich von der wahren Begebenheit unterscheidet. Denn in Norens Stück geht es explizit um die menschliche Kälte, die bei ihm als Urmotiv jedes Verbrechens erscheint. Noren weicht auch darin von der Wirklichkeit ab, indem er einen "arisierten" Moslem mit bosnisch-kroatischem Migrationshintergrund als Mitläufer in die Geschichte einführt, der sich zum Mittäter entwickelt und am Schluss sogar zum eigentlichen Mörder: Er ist es, der das bereits niedergeschlagene Opfer erwürgt. Für das Aufgreifen brisanter Themen sind Lars Norens Stücke über Kriminelle, Obdachlose, Drogenabhängige und Psychiatrieinsassen seit den neunziger Jahren auch hierzulande bekannt, als seine Dramen verstärkt in Deutschland aufgeführt wurden. Ein Novum ist dagegen, dass eine Figur so unreflektiert und undifferenziert erscheint.

Denn der stets hungrige Ismael lässt sich alles von seinen Kumpeln gefallen. Er wird von ihnen gehänselt, ausgebeutet, erniedrigt und als Muslim beschimpft: "Muslime sind keine Menschen." Seine Familie und seine bosnische Herkunft bleiben ebenfalls von den Verunglimpfungen nicht verschont. Aber er reagiert stets cool, schlägt sich den Magen voll, lässt sich manchmal sackartig von den Felsen hängen und fragt zuweilen in einem Ton, als sei er des Sprechens überdrüssig: "Na was denn, was machen wir jetzt?" Ihm ist bewusst, dass er anders, nämlich "schwächer" ist als seine Kumpels. Er kann nicht so weit spucken wie sie und trinkt das Bier zwar aus der Dose, aber mit einem Strohhalm. Er ist der einzige, der trotz der Hitze vollkommen angezogen bleibt und gelegentlich versucht, Kalle, dem zukünftigen Opfer, zu helfen. Dass er in der Clique eine untergeordnete Rolle spielt, stört ihn absolut nicht. Den Zuschauer stört aber massiv, dass er am Ende des Stücks unverhofft und unvermittelt, auf die wortlose Aufforderung seiner Kumpel, die Jacke auszieht und Kalle damit erdrosselt. Selbst das hervorragende Schauspiel von Florian Stiehler vermag der Figur des Ismael nicht über diesen unglaubwürdigen Bruch hinwegzuhelfen.

Die Figuren von Keith und Anders zeigen hingegen eine konzeptionell geradezu perfide Tiefe. Keith spielt den Anführer. Er philosophiert, argumentiert und befiehlt, ist sein eigener Entertainer, duldet keinen Widerspruch und dürstet doch ständig nach Anerkennung. "Mich kann keiner vergessen." Anders dagegen ist der typische Mitläufer, der Keith fast alles im Ton eines Navigationssystems nachspricht. Freilich ist sein Organ lauter als das von Keith und er kann auch weiter und geräuschvoller spucken. Als Keiths Schatten bewegt er sich zackig auf der Bühne; ein Pingpong-Ball der Gefühle, Körpersprache und Haltung. Zwischen ihm und Keith geht es nicht um Freundschaft im eigentlichen Sinne, sondern lediglich um gegenseitige Bestätigung. Mitgefühl soll der Zuschauer mit diesen beiden Figuren haben, darauf ist Norens Text angelegt. Schließlich haben beide eine traumatisierte Kindheit hinter sich. Anders etwa wurde von seinem Vater gezwungen, das gebratene Fleisch seiner eigenen Kaninchen zu verzehren, weil er sich, entgegen seinem Versprechen, nicht um sie gekümmert hatte. Die Moral daraus: "Man muss sein Versprechen um jeden Preis halten!"

Kalle, das Opfer, ist dagegen der Adoptivsohn einer reichen schwedischen Familie. Für ihn empfindet der Zuschauer weniger Empathie, das Stück hält ihn wie auf emotionale Distanz. Wohlhabend, verwöhnt und neugierig verdichten sich in seiner Figur Furcht und Ratlosigkeit mit großer innerer Stärke. Die Schauspielerin Ulrike Schwab spielt diese harten Widersprüche mit sanfter Beweglichkeit, vor dem beeindruckenden Hintergrund der von Petra Buchholz entworfenen leeren Bühne, die wie eine Leichenhalle aussieht und eine eindringliche Atmosphäre von Kälte und Herzlosigkeit ausstrahlt. Ohne die eleganten Einfälle der 30-jährigen Regisseurin Marta Gil Polo aus Barcelona wäre Norens Drama wahrscheinlich wenig mehr als ein für Jugendliche über 14 Jahre geeigneter Aufklärungstext. Denn zum Teil ist das Stück in einer abschreckend trockenen, wenn nicht sogar blasierten Sachlichkeit geschrieben. Wäre es weniger exzellent vom Ensemble des Schauspielhauses in Köln vorgetragen und gespielt, könnte man fast auf die Idee kommen, es handle sich gar nicht um einen wahren Fall, sondern lediglich um ausgewählte Stellen aus dem Handbuch für Rassismus.

Kälte von Lars Noren, Inszenierung: Marta Gil Polo, Bühne und Kostüme: Petra Buchholz. Gespielt von Christian Beermann, Jochen Langner, Florian Stiehler, Ulrike Schwab.


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