Die Kraft des Schweigens

Aufbegehren Hanna Minas Roman "Sonne an bewölktem Tag"

Es geht ganz einfach um den Kampf zwischen der Feudalklasse und der neugeborenen Bourgeoisie, dem Kleinbürgertum, das da und dort zwar die Macht übernehmen, nicht aber den Feudalismus ausrotten und eliminieren konnte". So beschreibt der syrische Schriftsteller Hanna Mina den Inhalt seines Romans Sonne an bewölktem Tag. Und er fügt hinzu: "Ein Bourgeois liefert sich nicht selbst an den Strick, das heißt, er verwandelt sich nicht in einen Proletarier und bleibt deshalb Kleinbürger, zögernd, schwankend, unentschlossen."

So furchtbar theoretisch liest sich der Roman dann aber nicht, dessen Originalausgabe 1973 in Syrien erschienen ist. Nüchtern gesagt geht es hier um die Liebe und um das Erwachsenwerden eines jungen Mannes, der melancholisch ist und sich in die schönste "Frau der Welt mit den schwarzen Augen" verliebt. Das Problem ist nur, dass der junge Mann aus einer wohlhabenden Familie stammt und die Frau nicht nur älter als er, sondern auch eine Prostituierte ist. Sie haben sich beim Dolchtanz kennen gelernt, den der junge Mann von einem musikbewanderten Schneider im Basar lernt. Der junge Mann studiert zwar, um sich auf die Übernahme des väterlichen Imperiums vorzubereiten, seine Leidenschaft gilt aber dem Tanz und der Musik. Schlimm ist nur, dass der Dolchtanz in seiner Kultur als der Tanz der armen Leute von der Strasse gilt. In seiner konventionellen Familie, die sehr stark von der französischen Kultur geprägt ist, wird auch getanzt, aber ausschließlich Tango. Als der konservative Vater von dem skandalösen Treiben seines Sohns erfährt, ist er empört und plant, dem ein Ende zu setzen. Spätestens da beginnt unausweichlich der klassische Kampf zwischen Hütten und Palästen.

Hanna Mina zeigt in diesem Roman demonstrativ seine Treue zum sozialistischen Realismus als Erzählstil. "Es stimmt, dass ich in ›Sonne an bewölktem Tag‹ und ein paar anderen Romanen den Reichtum des sozialistischen Realismus deutlich gemacht habe, seine Fähigkeit, mit allen literarischen Schulen zusammenzuwirken und aus allen Strömungen und Stilen Nutzen zu ziehen, ohne sich selbst zu verlieren", sagt Mina in einem Interview. "›Sonne an bewölktem Tag‹ hat drei Dimensionen: die realistische, die romantische und die symbolisch-mystische. Dazu kommt der Duft der Poesie. Dieser Roman ist ein Zeugnis des schöpferischen Realismus, der sich so oft den Attacken der formalistischen Kritiker ausgesetzt sieht oder jener Figuren, die sich mit der Kritik salben, deren kritisches Produkt dann aber nichts anderes offenbart als ihre persönliche Ignoranz".

Solche Argumente bestimmten den Kampf zwischen den arabischen Literaturkritikern, die in der zweiten Dekade des letzten Jahrhunderts für oder gegen den sozialistischen Realismus schrieben. Die sozialistischen Ideen kamen im Namen des Sozialismus, der nach der russischen Oktoberrevolution, insbesondere während und nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärkeren Einfluss im Nahen Osten gewann. Die Aneignung sozialistischer Theorien in der Literatur hat sich während der darauf folgenden Jahrzehnte aktiv ausgebreitet, zunächst in Kairo, dann in Beirut. Literaturkritiker wie Salama Musa (1887-1958) plädierten für einen klaren Wandel im Verständnis von der gesellschaftlichen Verantwortung und der Aufgabe der Literaten. Diese Forderungen waren mit scharfen Angriffen auf die traditionellen, aber auch die neoklassizistischen und romantischen Konventionen in der Literatur verbunden.

Nach den neu entwickelten Kriterien für die Literaturkritik sollte der Literat in seinem Werk, seine künstlerische Vorstellungskraft und technisch versierte Gestaltung mit den Elementen des sozialen Realismus in Einklang bringen. Die dekorativen und oratorischen Merkmale des traditionellen Erzählstils wurden damit überwunden. Auch der Autor wurde nicht mehr als moralische und belehrende Instanz begriffen, wie es unter den Pionieren der modernen Prosa-Literatur bislang zumeinst die Regel war. Seine Rolle sollte auch nicht die eines politischen Aktivisten, sondern die eines feinsinnigen Beobachters und Gesellschaftskritikers sein; ebenso aber eines reflektierenden und gestaltenden Künstlers.

Nach diesen Maßstäben schöpft auch Hanna Mina die Hauptfigur seines Romans. Der Student hat den prätentiösen Anspruch auf Anderssein und Verweigerung, insbesondere gegenüber der konservativen Welt seiner Familie. Der junge Mann, der auch als Ich-Erzähler fungiert, ist ein untypischer "Held" in der Literatur seiner Zeit. Er sucht stets Wörter, die nicht nur seine innere Welt, sondern auch seinen Körper, seine Stimme, seinen Geruch oder seinen Eigensinn beschreiben. Er gehört zur neuen Generation von Männern, die anfangen, ihrer Klasse den Rücken zu kehren: Ein springender Träumer, der an ewige Liebe und Erlösung glaubt.

Auch "die Frau mit den schwarzen Augen" ist trotz ihres harten Lebens eine Schwärmerin. Deshalb verfällt sie ungewollt in eine ausweglose, fatale und falsche Liebe. Sie ist die unabhängige Abhängige, gnadenlos, zart, arglos und provokant. Nachdem die Eltern ihres Liebhabers sie demütigen, will sie mit ihm nicht mehr zu tun haben. Der junge Mann sucht sie aber wieder auf. "Diese dramatische Begegnung war für uns beide ebenso banal wie außergewöhnlich", schreibt der Ich-Erzähler. Außergewöhnlich ist auch die Reaktion der Frau, die ihn mit einer Schimpftirade empfängt: "›Du bist wie die anderen Macker, gemein und nur auf deine Lust erpicht. Darüber vergesst ihr alles: Würde, Ansehen, Familienehre. Na, los doch! Runter mit der Hose! Mach schon‹. Unschlüssig stand ich in dem Zimmer".

Hanna Mina liebt es, auf solche Ausweglosigkeiten hinzuweisen, im täglichen Leben, in der Liebe, in der Haltung des Studenten zur Politik, zur Geschichte, zu sich und zu seinem eigenen Körper. Die Generation, zu der auch der Student gehörte und die Mina mit einer gewissen bittersüßen Passion beobachtet, musste in der Zeit nicht nur das Erbe der französischen Besetzung abräumen, sondern auch gegen eigene korrupte arabische Regierungen aufbegehren. Das war die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zusah, wie die Europäer die Region erst umgekrempelt und dann wieder geräumt haben, ohne die Bevölkerung an der Gestaltung dieser Politik zu beteiligen. Die große Schwierigkeit dieser Generation bestand damals darin, im Angesicht von unguten Alternativen ein anständiges Leben zu führen, eines, das man vor sich rechtfertigen konnte.

Dem Student Minas gelingt es nicht, einen neuen Weg einzuschlagen. Obwohl er weiß, dass sein Tanzlehrer, der Schneider im Auftrag seines Vaters ermordet worden ist, unternimmt er nichts. Er eilt nur nach Hause, um ihm seinen rasenden Hass ins Gesicht zu schleudern: Er brüllt "Mörder!" Der Vater schreit im selben Ton zurück: "Schweig!". So setzt Mina mit seiner effektvollen sprachlichen Kraft dem "Kampf zwischen der Feudalklasse und der neugeborenen Bourgeoisie" ein Ende.

Hanna Mina: Sonne an bewölktem Tag. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Lenos, Basel 2003. 276 S., 22,50 EUR


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