Die Krallen der Vergangenheit

Verbrechen In ihrem Roman "Du fehlst mir, meine Schwester" nimmt Norma Khouri das jordanische Strafgesetzbuch aufs Korn

Den jordanischen Kriminalkommissaren fällt es meistens nicht so schwer, das Tatmotiv eines Frauenmörders herauszufinden. Sie tippen als erstes auf Ehrenmord. Und das trifft erfahrungsgemäß oft zu. Zuweilen verkünden die Mörder selbst ihr Verbrechen voller Stolz wie im Fall von Kifaya, einem 16-jährigen jordanischen Mädchen, das mit dem Messer von ihrem Bruder ermordet wurde. Er lief hinaus auf die Straße, schwenkte triumphierend sein blutiges Mordwerkzeug und rief: "Ich habe meine Schwester getötet, um meine Ehre zu retten." Nach den Ermittlungen war Kifaya von einem ihrer anderen Brüder vergewaltigt worden.

Um die weiblichen Verwandten umbringen zu dürfen, brauchen die Ehrenmörder keine schwerwiegenden Gründe zu nennen, wie der Fall eines 14-jährigen Mädchens beweist, das im Februar 2000 von ihrem 13-jährigen Bruder mit dem Telefonkabel erwürgt wurde, während sie telefonierte. Der Junge gestand den Mord und sagte bei der Polizei aus, dass es sich um ein ehrbares Verbrechen gehandelt habe, denn sie hatte mit einem Mann telefoniert.

Zwei Paragrafen in Jordaniens Strafgesetz legitimieren das Verbrechen der Ehrenmörder: Paragraf 340 nimmt von Bestrafungen all diejenigen aus, die weibliche Verwandte töten, die Ehebruch begingen, und senkt das Strafmaß für diejenigen, die weibliche Verwandte töten, die in einer ehebruchartigen Situation beobachtet werden (zum Beispiel wenn sie mit einem Fremden sprechen). Paragraf 98 senkt das Strafmaß für einen Täter, der in einem Zornausbruch auf ein ernsthaft falsches Verhalten des Opfers reagiert. Das Gerücht oder die Vermutung gilt mittlerweile als "ernsthaft falsches Verhalten", obwohl die offiziellen Stellen und Ärzte immer wieder belegen, dass etwa 90 Prozent der Opfer sexuell unberührt waren oder zumindest nicht getan hatten, was ihnen angelastet wird.

Dahlia, die Hauptfigur des Buches Du fehlst mir, meine Schwester der in Amman geborenen Autorin Norma Khouri ist auch das Opfer solch eines Ehrenmords. Die Geschichte wird von ihrer besten Freundin Norma, die zur christlichen Minderheit in Jordanien gehört, erzählt. Obwohl Dahlia in einer streng moslemischen Familie aufgewachsen ist, freunden sich die beiden Kinder an. Ihre untrennbare Freundschaft setzen sie nach dem Abitur ebenso fort. Sie eröffnen gemeinsam einen Frisiersalon, in dem sie sich der strikten Kontrolle ihrer männlicher Autorität entziehen können. Diese Nische der Freiheit verwandelt sich später in einen Liebesraum, als eines Tages Michael, der königliche Gardist und dazu noch Christ als Kunde im Salon erscheint und sich in Dahlia verliebt. Eine verbotene Liebe nimmt ihren lebensgefährlichen und zugleich glücksbringenden Lauf. Vor allem bemüht sich Nora, Dahlia vor ihren gewalttätigen Brüdern zu schützen, die sie permanent bewachen. Dass es ihr nicht gelingt und Dahlia schließlich Opfer eines Ehrenmordes wird, liegt nicht an ihrem Versagen, sondern an dem Moralverständnis einer paradoxen Gesellschaft, in der Modernität und Tradition stets aufeinander aufprallen.

Ursprünglich haben Ehrenmorde ihre Wurzeln in den Gesetzen des Hammurabi und der Assyrer von 1200 v. Chr., in denen die Jungfräulichkeit einer Frau als Besitz ihrer Familie galt. Es waren Gesetze, die sich aus dem Leben in einer unbarmherzigen Umwelt ergaben und deren Traditionen weit länger als der Islam und das Christentum zurückreichen. 1998 wurde in Jordanien eine lange öffentliche Debatte darüber geführt und ein Streichungsentwurf konzipiert, der schließlich der Nationalversammlung vorgelegt wurde. Die Nationalversammlung, in der die "Islamic Action Front" (IAF) die meisten Plätze besetzt, lehnte den Entwurf zweimal ab. Die IAF behauptet, dass der Ministerrat die jordanische Gesellschaft demoralisiert, und dass der Westen die arabischen Frauen dazu bringen wolle, ihre Ehre und Werte zu vernachlässigen und sich zu benehmen wie Tiere.

Aus demselben Grund wird Dahlia wie ein Tier geschlachtet. Du fehlst mir, meine Schwester lebt von der Aura des Authentischen. Die wahren Ereignisse werden schonungslos festgehalten, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Dabei erforscht die Autorin die Geschichte des Landes, legt lange Notizen über die Evolution der jordanischen Gesetze an. Manchmal weicht sie vom Thema ab, um die politische Lage ihrer Heimat zu beleuchten. Obwohl die Beschreibungen zuweilen oberflächlich wirken und Dialoge ohne Spannung dahinplätschern, lässt uns die Autorin an jenen schmerzvollen Momenten und Prozessen teilnehmen, in denen die Ehrenmorde passieren. Sie erzählt das bittere Schicksal Dahlias aus Gefühlslagen heraus, wird dennoch nie sentimental. Denn sie verdichtet das Thema ohne Visionen und unnötige Bilder.

Nicht nur weil Norma Khouri unter der Last einer Vergangenheit leidet, in der ein solcher Mord an ihrer liebsten Freundin praktiziert wurde, sondern weil sie sich dieser Vergangenheit verpflichtet fühlt, die mit Bleigewichten auf der Gegenwart lastet. Obwohl die Autorin heute in Australien lebt und Jura studiert, um gegen die Ehrenmörder zu kämpfen, spürt sie "die Krallen der Vergangenheit" in ihrem eigenen Geist und Körper. "Während ich mich aus der Ferne zu Wort melde und in den Kampf für die jordanischen Frauen eintrete, kämpfe ich persönlich immer noch gegen die Tabus, die die arabische Kultur uns allen von Geburt an eingebläut hat: Eine Frau ist wie eine Tasse; wenn jemand daraus trinkt, will niemand anders sie haben."

Norma Khouri: Du fehlst mir, meine Schwester. Deutsch von Ulrich Hoffmann. Wunderlich, Reinbek bei Hamburg 2003, 250 S., 19,90 EUR


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