Die universelle Wahrheit

Utopie Drei Romane von Nagib Machfus

Mit Ausnahme einiger Aus- und Inlandsreisen hat Nagib Machfus, der 94-jährige "Vater des ägyptischen Romans", der am 30. August dieses Jahres starb, kaum jemals seine geliebte Stadt, Kairo, verlassen. In seinen mehr als 40 Romanen, Kurzgeschichten und Novellen geht es freilich um nichts anderes als um die Sehnsucht nach abenteuerlichen Reisen durch die Zeit, durch die geheimnisvollen Orte der Geschichte und in die Tiefe der menschlichen Seele. Warum Machfus sich ein Leben lang solchen "anstrengenden Strapazen" unterzog, verrät uns die Hauptfigur des Romans Echnaton, der junge Historiker Merimun: "Ich will die Wahrheit herausfinden."

Der Wahrheitsfindung wegen schickt Machfus den jungen Forscher Merimun in diesem Roman durch Ägypten, um den Grund des Sturzes des wahrheitsliebenden Pharaos, Echnaton, zu ergründen. Echnaton war bemüht, das Land mit Liebe, Vertrauen und dem Grundsatz der Gewaltfreiheit zu regieren und gleichzeitig dem Vielgötter-Glauben der Ägypter ein Ende zu bereiten. Als Merimun sich auf die Reise begibt, ist Echnaton etwa zwei Jahrzehnte tot. Vierzehn seiner Zeitzeugen leben noch, die der neugierige Chronist befragt. Es sind seine Generäle, Priester, Künstler, enge Vertraute und Familienmitglieder. In ihren Ausführungen stehen Hass und Liebe, Abneigung und Bewunderung dem Pharao gegenüber dicht nebeneinander. Aus diesem Wust der Gefühle kann aber der junge Forscher die Wahrheit über die Niederlage der Echnatonschen Utopie nicht entnehmen. Er lernt dennoch bald, dass die Wahrheit nur in ihrer Pluralität existiert. Sie sah nämlich für jeden, den er befragt, anders aus.

Um die Wahrheitsfindung geht es ebenfalls im Roman Das Hausboot am Nil, der 1966 im Original erschienen ist. Der Schauplatz der Geschichte ist nicht das ganze Land Ägypten, sondern, wie der Titel des Buches verrät, ein Hausboot am Nil. Die im Roman angesprochenen Themen beschränken sich dennoch nicht auf die nationalen Fragen. Sie stellen auch die Debatten dar, mit denen sich die Intellektuellen jener Zeit im Westen ebenfalls beschäftigt hatten, wie etwa die Diskussion über das von Sartre aufgeworfene Thema "littérature engagée" und/oder "l´art pour l´art". Der handlungsarme Roman, der wie ein Kammerspiel stark auf den Dialog angelegt ist, zeigt nicht nur Machfus´ großes Interesse an westlicher Literatur, sondern auch seine grundlegenden Kenntnisse über die politischen Verhältnisse in seinem Land und der arabischen Welt. Denn die Figuren im Hausboot am Nil treffen sich dort, um, neben dem Haschischkonsum, über die in den sechziger Jahren relevanten Themen zu diskutieren: Sozialismus, Revolution, Befreiungskampf, Heldentum und nicht zuletzt persönliche Tugenden wie Verantwortung.

Das Hausboot ist eigentlich eine dramatische Abrechnung mit den Idealen der nasseristischen Revolution, die ein Jahr nach der Veröffentlichung des Romans unverhofft eine Niederlage erlitt. Der Roman lebt von einem forcierten Nihilismus, der angesichts des Widerspruchs zwischen dem ernsthaften Streben der politischen Führung nach "revolutionären" Veränderungen und ihrer gleichzeitigen Halbherzigkeit in der Mitte der sechziger Jahre in Ägypten eintrat. Machfus ist zu dieser prophetischen Feststellung gelangt, weil er sich durch seine Tätigkeit im Kulturministerium (1954 bis 1966) und bei der Staatlichen Ägyptischen Filmgesellschaft (bis 1968) einen komplexen Überblick über das Spektrum politischer Meinungen bei den Intellektuellen verschaffen konnte.

Darüber hinaus suchte er immer bewusst den Kontakt zu jungen Autoren und Gespräche mit Schriftstellern seiner Generation mit unterschiedlichen Weltanschauungen und künstlerischen Neigungen. Insofern ist es nicht wunderlich, dass den Hausboot-Besuchern im Roman reale Personen zugrunde liegen, die wieder in einem seiner Werke, in dem Porträtband Spiegelbilder auftauchen.

Dieses Figurenkaleidoskop ist eine besondere Variante des autobiografischen Erinnerungsbuches. Denn Machfus zeichnet nicht nur vierundfünfzig Porträts von seinen Freunden und Feinden, sondern vermittelt auch damit das kulturelle, politische und gesellschaftliche Klima jener Epoche. Die große Zahl der einzelnen Porträts ist darauf zurückzuführen, dass sie zuerst als Fortsetzungsreihe für eine Fernsehzeitschrift verfasst worden sind und dann als Buch 1972 im Original veröffentlicht wurden. Mit einer schlichten Erzählweise und einer nüchternen Sprache ermöglicht Machfus dem Leser Einblicke in das Innenleben von Königstreuen, Kommunisten, "Muslimbrüdern", Kompromisslosen, und Wendehälsen der arabischen Gesellschaft. Diese Panoramabilder begleiten immer wieder Themen wie Nahost-Konflikt, die europäische Kolonialpolitik und die Stellung der Frau in der arabischen Welt. Machfus sucht in diesen Prosa-Miniaturen seine eigene Wahrheit, weil alle Personen und Ereignisse ausschließlich seiner subjektiven Sicht unterliegen.

Ob eine Geschichte von Macht und Glauben wie in Echnaton, von Ehrgeiz und Resignation wie in Das Hausboot am Nil, von Liebe und verletzten Eitelkeiten wie in Spiegelbilder, Machfus erzählt sie so gekonnt, präzise und faszinierend, dass Millionen Leser jeden Alters mit unterschiedlichem Kunstverständnis und ungleichem Bildungsstatus sie nachvollziehen können. Dabei überschreitet er die Grenze der strikten grammatikalischen Regeln und des Lautstands der arabischen Sprache und befreit sie in jedem seiner Werke von ihrer jahrhundertenlangen Verkrustung und Schwere. So setzt er sprachliche Maßstäbe und wird selbst Vorbild ganzer Schriftstellergenerationen in arabischen Ländern.

Nagib Machfus: Echnaton. Der in der Wahrheit lebt. Roman. Aus dem Arabischen von Doris Kilias, Unionsverlag, Zürich 2001, Tb, 192 S, 9,90 EUR

Nagib Machfus: Das Hausboot am Nil. Roman. Aus dem Arabischen von Nagi Naguib.

Mit einem Nachwort von Stefan Weidner. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 156 S., 12,80 EUR

Nagib Machfus: Spiegelbilder. Mit 50 Illustrationen von Saif Wanli. Aus dem Arabischen von Doris Kilias Unionsverlag, Zürich 2002, 256 S., 29,80 EUR


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