Die verborgene Erbschaft

Ausweglose Situationen Sahar Khalifas neuer Roman "Das Erbe"

Alltag im Westjordanland vor dem israelischen Checkpoint Kirjat Rahel am Ende der neunziger Jahre: Schranken, Soldaten, junge Männer mit erhobenen Händen, eine lange Autoschlange, Schüsse, die von fern herüberschallen, Rauch von Bomben, die der Wind heranweht und Schreie der bewaffneten Soldaten: "Stopp, Stopp", wenn man auf sie zugeht oder beabsichtigt, sie anzusprechen. Nach 30 Jahren Besatzung und Beschlagnahmung hatten sich die Menschen an diesen Alltag, den Checkpoint und die Durchsuchung gewöhnt. Er hätte sie vielleicht auch nicht weiter beeindruckt, wenn nicht in einem Rettungswagen in der Autoschlange eine Frau, Fitna, läge, die zu verbluten droht. Fitna wurde zuvor bei der glanzvollen Eröffnung eines Kulturzentrums durch die Explosion einer Granate schwer verletzt und spielt in dem neuen Roman Das Erbe von Sahar Khalifa, einer der führenden palästinensischen Autorinnen, eine große Rolle: Sie trägt den Erben ihres begüterten und bereits verstorbenen Mannes im Bauch.
Was, wenn sie stürbe, nur weil der bestellte Fahrer des Rettungswagens keinen Passierschein vorzuzeigen hat? Sie hat alles unternommen, um an das beträchtliche Erbe des Mannes zu gelangen: Sie hat sich künstlich befruchten lassen, sich mit der einzigen in Brooklyn aufgewachsenen Tochter ihres Mannes als berechtigte Alleinerbin heftig gestritten und sich mit ihrer weitverzweigten Sippe verfeindet. Nun sollte alles umsonst sein wegen eines vermeidbaren Fehlers, eines fehlenden Passierscheins?
Khalifas Figuren verfangen sich oft in ausweglosen Situationen. In der Wirklichkeit ihres Handelns, noch häufiger in ihren Plänen. Da ist der in Deutschland ausgebildete Ingenieur Kamal, der erst von der patriotischen Idee besessen ist, eine Kläranlage in seiner Heimatstadt zu bauen. Er gibt aber bald sein Projekt auf, weil die Söhne seines Geschäftspartners seine Schwester entführen, um sie zur Rückgabe ihres Brautgeldes zu zwingen. Da ist der junge jähzornige Widerstandskämpfer Said, der zuerst vergeblich versucht, seine 50-jährige Schwester mit dem Messer umzubringen, weil sie eine Affäre mit einem älteren und verheirateten Mann hat. Er riskiert aber später sein Leben, um sie zu retten, als er erfährt, dass sie gewaltsam von den Fremden eingesperrt worden ist. Da ist die in den Staaten aufgewachsene palästinensische Anthropologin Sena, die in ihr Vaterland zurückfährt, weil sie das Gefühl des Fremdseins und der Vereinsamung im Westen nicht mehr aushalten kann. Sie kehrt aber bald wieder nach Brooklyn zurück, weil sie sich in ihrer Heimat und unter ihrer Familie genauso fremd und einsam fühlt wie in der Fremde.
Gekonnt erzählt die 61-jährige Autorin Sahar Khalifa Senas Geschichte und ihre Begegnung mit ihrem seit langem verschollenen Vater - Symbol der Verluste ihrer eigenen Kultur und Identität. Mit bissiger Ironie und kritischem Realismus schildert Khalifa das ganze Dilemma einer arabischen Außenseiterin in einer Gesellschaft, die stets vom Zusammenstoß zwischen Modernität und Tradition erschüttert wird und stärker als andere von politischen Ereignissen geprägt ist.
Schon in ihren ersten Romanen verband Sahar Khalifa die politische Thematik mit dem Problem weiblicher Unterdrückung. Unter dem Motto "Wir wollen nicht nur ein befreites Land, wir wollen (auch) ein befreites Leben" begann sie, kurz nach der israelischen Invasion im Westjordanland und Gaza zu schreiben. Ihre erste Veröffentlichung stammt aus dem Jahr 1974. Der folgten bislang noch sechs Bücher.
In ihrem autobiographischen Roman Memoiren einer unrealistischen Frau stellt sie die Unterdrückung der Frauen ganz in den Mittelpunkt. Die Geschichte dreht sich um Khalifas eigenen ungewöhnlichen Lebensweg und um ihren Sprung ins selbstständige Leben nach einer frühen und traditionellen Ehe. In dem 1986 in Beirut erschienen Roman schildert sie eine Welt, in der Frauen nur als Beiwerk der Männer dienen. Die Protagonistin Afaf ist eine privilegierte Palästinenserin, stammt aus einer wohlhabenden und traditionellen Familie. Ihr Privileg verschafft ihr jedoch keine Anerkennung ihrer Rechte als Frau. Aber er bereitet ihr wenigstens geistige Freiräume vor. Sie prägen die emanzipatorische Botschaft des Buches. Gerade deshalb wurde sie nach der Veröffentlichung ihres Romans von den Männern aus der Heimat beargwöhnt und von den Frauen verehrt. Mit Khalifa behauptete sich eine Autorin in der literarischen Szene Beiruts, die mit scharfem Zynismus arbeitet, aber ohne Verzicht auf die sonst üblichen metaphorischen und bildhaften Elemente.
Im Roman Das Tor, der 1990 in Beirut erschien, werden diese Merkmale bewusster eingesetzt. Khalifa, die die meisten arabischen Kritiker als die "repräsentative Stimme der arabischen Literatur" bezeichnen, beschreibt in diesem Roman die Hoffnungen, Enttäuschungen, Widersprüche und Konflikte der Intifada. Die Geschichte spielt sich in einem alten Stadtviertel von Nablus in der besetzten Westbank ab. Sie stellt den täglichen Widerstand der Intifadakämpfer gegen die israelische Armee dar. In dieser Phase der Intifada spielen die Frauen eine besondere Rolle: "Sie sind gezwungen worden, die Männer in den verschiedensten Aufgabenbereichen zu ersetzen. Denn Tausende von Männern sind weg, im Gefängnis oder untergetaucht, verletzt im Spital, oder sie suchen Arbeit in anderen arabischen oder westlichen Ländern." Zustimmend vermerkt die Autorin die neue Stellung der Frauen im Kampf gegen die nationale Unterdrückung.
Drei von diesen Frauen sind die Protagonistinnen ihres Romans Das Tor. Jede vertritt einen unterschiedlichen sozialen Status. Da ist die Hebamme Sitt Sakija, eine traditionelle, von ihrem Mann verstoßene und von allen respektierte Frau, die finanziell ein unabhängiges Leben führt. Ihr Gegenbild ist die junge Prostituierte Nasha, die von allen Bewohnern des Viertels geächtet wird. Die Forscherin Samar, vertritt ein reflektiertes Frauenbild im Roman und untersucht gerade die Auswirkungen der Intifada auf das Leben der Frauen. "Was hat die Intifada den Frauen gebracht?", fragt sie. Eindeutig negativ ist die Antwort der Hebamme Sakija: "Die alten Probleme sind geblieben, und die neuen kannst du gar nicht mehr zählen." Eine kritische und pessimistische Bilanz, wegen der die Schriftstellerin in ihrer Heimat von den traditionellen Kreisen heftig angegriffen wurde.
In dem neuen Buch Das Erbe rückt die Politik in den Hintergrund. Deren entscheidende Auswirkungen auf das Leben der Figuren sind aber stets präsent. Sie gestalten ihren turbulenten Alltag mit oder ohne Streit über den Nachlass; ein Alltag, der mit schallenden Schüssen anfängt und mit Bombenexplosionen zu Ende geht. Dennoch wird Das Erbe mit einer leisen und narrativen Stimme erzählt, ist reich an vielen versteckten Bezügen. Sie lassen den sanft gleitenden Übergang von dem ursprünglichen Thema und der Erzählperspektive nach einigen Kapiteln kaum erkennen. Statt der materiellen Erbschaft stellt Khalifa mehr und mehr das kulturelle Erbe in den Vordergrund. Sie setzt sich aber nicht mehr mit der Problematik auseinander, ob es das Interesse der Frauen und ihrer Protagonistinnen berücksichtigt oder vielmehr ignoriert. Auch der Leser fragt nicht mehr, wie die Zukunft aufgebaut wird, die auf dieser Kultur basiert. Denn man ist beschäftigt mit dem lebensgefährlichen Alltag im heutigen Westjordanland.

Sahar Khalifa: Das Erbe. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Unionsverlag, Zürich 2002, 349 S., 19, 80 EUR

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