"Den Orient gibt´s nicht mehr. Den hat´s noch nie gegeben. Das ist alles nur ein Traum des Abendlandes". Mit diesem klugen Statement von Volker Schlöndorf aus dem Film Die Fälschung beginnt das Buch Kino des Orients des iranischen Filmjournalisten Amin Farzanefar aus Köln. Dass der Begriff "Orient" besonders von Experten nahöstlicher Kulturen kritisch betrachtet wird, ist dem Autor bewusst. Er teilt auch ihre Ansicht, dass der Begriff standortgebunden ist; was Europäer Orient nennen, ist für Chinesen Okzident. Aus diesem Blickwinkel führt Farzanefar zahlreiche Interviews mit den führenden Regisseuren und Regisseurinnen aus der arabischen Welt sowie aus Afghanistan, Iran und der Türkei über Islamismus, Migration und Globalisierung, Postkolonialismus und ethnische Konflikte. Diese Themen haben sie in den vorgestellten Spielfilmen ästhetisch bearbeitet. Außerdem kommen vielversprechende Filmemacher aus der Diaspora zu Wort. Eine sorgfältig zusammengetragene Filmographie von 172 Filmen des gegenwärtigen Kinos aus dem "Orient" schließlich macht es zu einem echten Nachschlagewerk.
Freimütig gesteht der Autor die Defizite seines Werkes ein. "Es fehlen bedeutende Filmländer wie Syrien und Libanon, es fehlen die Saharastaaten Mauretanien, Tschad und Sudan- bisweilen ohne feste Kinosäle, aber mit mobilen Film-Projektoren und Video-Beamern, es fehlt der Blick auf den ferneren Osten: Indonesien, das Land mit der größten muslimischen Population. Sodann - um Quotendiskussionen einzudämmen - fehlen Regisseurinnen: ein Interview mit der Iranerin Rakhshan Bani-Etemad kam in letzter Minute doch nicht zustande, die pakistanische Filmemacherin Sabiha Suhar habe ich nicht mehr erreicht. Schließlich fehlen Zahlen, Daten, Fakten."
Es fehlen zuweilen auch die "Superstars", die im "Okzident" als "Repräsentanten" des Kinos ihrer Länder gelten, wie etwa die iranischen Regisseure Kiarostami und Makhmalbaf. Stattdessen kommt ein weniger bekannter afghanischer Regisseur, Siddik Barmak, zu Wort. Bei seinem ersten Film Osama findet Farzanefar dieselbe "Verfallsromantik", die bereits Mohsen Makhmalbafs Reise nach Kandahar prägt: Surreal anmutende Trümmerkulissen, Flugzeugswracks, verlassene Paläste, zerbombte Hausfassaden. Offensichtlich hat Makhmalbaf seinem afghanischen Kollegen Barmak bei der Suche nach Finanzierung und einem Produzenten für die Realisierung seines Filmprojekts Osama geholfen. Dennoch streitet er den Einfluss Makhmalbafs auf seine künstlerische Leistung ab und betont, in dem ersten afghanischen Film nach der Talibanherrschaft sei "mehr Barmak als Makhmalbaf."
Genau um diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten geht es im Kino des Orients, um die Souveränität jedes einzelnen Filmemachers aus dieser Region, um die wieder gefundene Solidarität miteinander, es geht um die thematische Verbundenheit und das gesunde Abstandnehmen von einander, aus dem neue Ausdruckformen und weitere Spielräume entstehen.
Um die facettenreichen Aspekte des Kinos aus dem "Orient" transparent machen zu können, besuchte Farzanefar zwischen 2002 und 2005 internationale Filmfestivals in dieser Region - Teheran, Kairo, Tunis, Istanbul -, die als Sprungbrett für die Filmemacher aus dem Nahen und Mittleren Osten gelten. Auf diesen Festivals suchte er die nicht "repräsentativen" Filme aus, die eventuell in absehbarer Zeit auch auf den mitteleuropäischen Leinwänden zu sehen sein könnten. Und er befragte die anwesenden Cineasten in ausführlichen Interviews. Die Themen der Filme fungieren immer als assoziative Vorlage zu den Gesprächen. In ihren Einleitungen erörtert er zuweilen den Inhalt des Filmes, manchmal aber auch den politischen Kontext oder einfach den cineastischen Werdegang des Gesprächpartners.
So wird zuerst mit dem 52-jährigen Filmemacher Jusri Nasrallah aus Kairo über die gegenwärtige Krise des ägyptischen Kinos, das jahrzehntelang in der arabischsprachigen Welt tonangebend war, diskutiert, und dann über seine Filme wie Mercedes oder El Medina, die bestimmte politische Themen in einem visuellen "Zwischenraum" behandeln. "Dabei erscheint er als Rebell, der einmal etablierte Formen und Inhalte sofort wieder kippt, um neue Aspekte aufzuwerfen, auf Nebenfiguren und Peripherien zu verweisen", so die Interpretation von Farzanefar. Nasrallah betont aber im Gespräch, ganz "normale Filme" mit "normalen Figuren" zu machen: "Schwule, Albinos, Islamisten - ganz normale Ägypter eben".
In dem Vortext zum Film des marokkanischen Regisseurs Hassan Benjelloun: Das Urteil einer Frau platziert Farzanefar geschickt das Thema der Präsenz des Landes als Kulisse im Kino des Westens (wie in Wolfgang Petersen Troja oder Oliver Stones Alexander) um später mit ihm über den Dialog zwischen den Kulturen zu sprechen. Das Thema ist im Übrigen in fast allen Filmen Benjellouns präsent; einige seiner Protagonisten kommen aus Kanada oder Frankreich zurück und thematisieren die globale Arbeitsmigration. Neben diesem Stoff hat er eine cineastische Vorliebe, die er trotz der Zensur in allen Variationen auslebt: "Vor allem geht es mir um die Frauen."
Genau mit dem Thema "Frauen" können und wollen die in Stuttgart und Zürich lebenden Auslandsiraner Solmaz Shahbazi (34) und Tirdad Zolghadr (32) nichts anfangen. Als junge Filmemacher ordnet sie Farzanefar neben Samir (Schweiz/Irak, Forget Baghdad) und Fatih Akin (Deutschland, Gegen die Wand) eben unter der Rubrik "Kinder der Migration" ein, um auf ihre eigenwillige Sicht in der Kinowelt aufmerksam zu machen. Der Dokumentarfilm Teheran 1380 von Shahbazi und Zolghadr stellt vor allem die Betonarchitektur dieser Megacity als Hauptstadt Irans dar. Sie seien bei den Galerien und Museen gut verstanden worden. Beim professionellen Filmpublikum wurden sie aber mit "Buhrufen, Geschrei und Verärgerung" empfangen. Den Grund hat ein Kritiker einer Schweizer Regionalzeitung so formuliert; sie liefern im Film nichts, was das westliche Herz begehrt. "Da geht es nur um Architektur und nicht um die Frauenbewegung, nicht um frustrierte Demokratiebedürfnisse."
Das lesenswerte Buch Kino des Orients versucht nicht nur, den Stimmen dieser unkonventionellen Filmemacher Gehör zu verschaffen, sondern auch allen "orientalischen" Cineasten, die im Zeitalter des von westlicher Kultur dominierten Globalisierungsprozesses an ein anderes Kino glauben.
Amin Farzanefar: Kino des Orients. Stimmen aus einer Region. Schüren-Verlag,
272 S., 19,90 EUR
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