Die Protagonistin der Geschichte Persepolis der iranischen Zeichnerin Marjane Satrapi ist nicht, wie sonst oft in Comics üblich, eine Maus, sondern sie selbst, genannt Marji. Im ersten Panel stellt sie sich vor: "Das bin ich, mit 10 Jahren. Das war 1980." Man sieht ein rund bemaltes, kindliches Gesicht mit den wachen Augen. Marji trägt eine Art Kopftuch namens Maqna´, das ihre Haare, Schultern und Arme bis zum Ellbogen bedeckt. Das Maqna´ ist für Marji und ihre Klassenkameradinnen zuerst ein Spielzeug, mit dem sie in der Pause spielen. Vor allem ist es für das Spiel "Der Geist der Finsternis" geeignet; sie wickeln damit ihr Haupt ein und erschrecken ihre Mitschülerinnen zum Scherz. Später müssen sie aber wegen dieser "unerhörten Scherze mit dem Symbol der Frauenehre" büßen.
Marji weißt am Anfang nicht, was sie vom Kopftuch halten sollte. "Ich war tief gläubig. Aber ich und meine Eltern waren auch modern und aufgeschlossen." Aus dieser Perspektive zeichnet Marjane Satrapi in Persepolis ihre Kindheit, die von den Gräueltaten der Geister der Finsternis geprägt ist. Sie bedient sich als Comiczeichnerin eines Stils, der in der Tradition des amerikanischen Comiczeichners Scott McCloud seine Wurzeln hat und diese Kunstform als eigenständiges ästhetisches Medium betrachtet. Bis zu McClouds Buch Understanding Comics, das in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht wurde, waren Comics für die meisten der Kunsttheoretiker in vielerlei Hinsicht die "triviale Kunstform" und nur dann wirklich interessant, wenn sie von "echten Künstlern" wie Andy Warhol oder Roy Lichtenstein gezeichnet wurden.
Satrapi gehört mittlerweile in der gegenwärtigen Comicszene zu den bekanntesten Vertretern der neuen Comics-Autorengeneration. Sie selbst nennt ihr künstlerisches Genre Comic Autofiction. Mit Recht. Denn Persepolis spiegelt nicht nur die eigene Biografie der Autorin, verknüpft mit der Story ihres Landes wider, sondern es weist auch stark fiktive Züge auf. Weil die Hauptfigur Marji versucht, in recht- und querformatigen Panels die Geschichte Irans in einem Zeitraum von circa 2500 Jahren zu erzählen. Und dies auf einer persönlichen Ebene.
So lernt man in Persepolis nicht nur Strapis Klein- und Großfamilie kennen, sondern auch ihre Freunde und die Freunde ihrer Verwandten und Bekannten. Sie spielen bei allen bedeutenden geschichtlichen Ereignissen Irans im zurückliegenden Jahrhundert eine aktive, große Rolle. Um den von den Engländern forcierten Aufstieg der Pahlavi-Dynastie zu erzählen, führt sie in ihren Zeichnungen die Figur ihres Großvaters ein, der als ein mittelloser Prinz wegen seiner kommunistischen Ideen in der Shah-Zeit ins Gefängnis gesteckt wird. Ihr Großonkel taucht in dem Kapitel Moskau als Justizminister bei der ersten von der Sowjetunion unterstützten Regierung in der Provinz Aserbaidschan auf, um die Chronik der Gründung der "demokratischen Republik" im Norden Irans am Ende des Zweiten Weltkriegs zu erklären.
Fiktion regelt vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen: Nach der Niederlage der Republik Aserbaidschans 1946 wird der Großonkel-Justizminister verhaftet und als Landesverräter verurteilt. Am letzten Abend vor der Hinrichtung besucht ihn seine Geliebte "aus gutem Hause" im Gefängnis und sagt zu ihm: "Mach mir ein Kind". Entsetzt weigert er sich: "Du weißt, wie es ledigen Müttern bei uns ergeht. Du wirst verstoßen. Dein Leben wird die Hölle." Dennoch "wurde sie in dieser Nacht schwanger" und bekam einen Sohn, der "seinem Vater gleiche". Diese märchenhafte Version von der Liebe in der Zeit des politischen Tumults, die sich in einer durch und durch traditionellen Gesellschaft abspielen sollte, wirkt zwar irreal, aber durchaus spannend. Vielleicht verzeiht man deshalb der Autorin die historischen Unstimmigkeiten.
Die gelernte Illustratorin Satrapi zeichnet in Schwarzweiß-Bildern nicht nur packende Stories. Sie vertieft sich auch in Themen wie den Kampf des Individuums um Autonomie und die Grundsätze menschlicher Beziehungen und Konflikte. Persepolis ist die Suche eines Mädchens nach Identität und Unabhängigkeit in einer verlorenen Schlacht gegen unterdrückerische Autoritäten. Auf großen und kleinen Panels verknüpft die in Paris lebende Autorin Geschichten miteinander, die nicht den gewohnt narrativen Erzählstrukturen des Comics folgen, sondern zugunsten vernetzter Abläufe aufgebrochen werden.
Satrapis Ästhetik orientiert sich an einfachster Trickfilmtechnik. Sie trifft in Persepolis auf moderne grafische Formensprache; die Schwarz-Weiß-Farben wirken hart, die Figuren und Objekte sind von gemütlicher Rundlichkeit, die Dekors von kärglicher Ausstattung. Die Atmosphäre in den Gemälden, die das alltägliche Leben darstellen, sind von schwereloser Absurdität, obwohl sie Verfolgung, Krieg und Folter beinhalten. Sie sind komisch, nicht nur dank der absonderlichen Szenen, sondern auch dank der Kontraste und Brüche zwischen Form und Inhalt. Marji erzählt uns eine Anekdote, die sich die Iraner in den harten achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter einem von Geistern der Finsternis gebildeten Regime als Überlebensstrategie ausgedacht und verbreitet haben. Satrapi zeichnet diesen feinen, intelligenten Humor ab. Kein Wunder, dass die Story dieser Überlebensstrategie reizvoller als die einer Maus ist.
Marjane Satrapi: Persepolis 1. Eine Kindheit im Iran. Überreuter, Wien 2006, 160 S., 22 EUR
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