Glück gehabt!

Spuren der Migration Emine Sevgi Özdamars Roman "Seltsame Sterne starren zur Erde"

Ein seltsames Glück: Eine junge Türkin trifft in Istanbul einen Schweizer auf der Straße. Er fragt : "Weib, wo ist ein Hotel?" Die Frau lacht und antwortet: "Lassen Sie uns Deutsch sprechen." Sie sprechen Deutsch und laufen eine lange steile Straße in schnellen Schritten hinunter. Und damit beginnt eine wunderbare Freundschaft zwischen der damals unglücklichen Türkin und dem erfolg- und einflussreichen Physiker Josef aus Zürich. Josef befreit die arbeitslose Schauspielerin später von ihrem Lebens- und Liebeskummer, indem er ihr verhilft, ihren Traum zu verwirklichen, das Brecht´ sche Theater kennen zu lernen und zwar in Ostberlin der siebziger Jahre und von dem besten Schüler Brechts, dem Schweizer Benno Besson.

Von diesem seltsamen Glück berichtet Emine Sevgi Özdamar in ihrem jüngsten Buch: Seltsame Sterne starren zur Erde. Der Titel bezieht sich auf ein Liebesgedicht von Else Lasker-Schüler, das die Autorin im Kampf gegen einen wild bellenden Hund als Beruhigungsmittel am Anfang ihres Buches immer wieder laut spricht. Sie ist nun in Westberlin. Hier hat sich die junge Schauspielerin vorgenommen, das "Brechttheater" zu studieren. In Istanbul hat sie eine trostlose Ehe, die schon in die Brüche gegangen ist, hinterlassen. Auch ihre bereits angefangene Theaterkarriere scheint nach einem Militärputsch ruiniert zu sein. Nachdem sie als Witwe Begbick in Mann ist Mann aufgetreten ist, wurde das Theater in Istanbul geschlossen. In Westberlin angekommen, stellt sie ihren Koffer am Bahnhof Zoo ab und fährt sofort weiter zur Volksbühne nach Ostberlin. "Willkommen", ist das erste Wort Bessons zu ihr. "Sie können demnächst bei der Inszenierung eines Heiner-Müller-Stücks hospitieren", so beginnt die Karriere der Schauspielerin und Autorin Emine S. Özdamar in Deutschland.

Dieses seltsame Glück verdankt sie dem hilfsbereiten Josef. Sein jüdischer Freund Pinkus aus Zürich, der wiederum Besson kannte, schrieb diesem einen Empfehlungsbrief. "Darin versicherte dieser Besson, wie wichtig es für die Türkei und für das türkische Theater sei, wenn gerade ich bei ihm lernen könnte. Dabei kannte Pinkus mich nur aus meinen Briefen an Josef", schreibt die Autorin. Der wohltätige Josef vollendet seine edle Tat, indem er noch Özdmars Aufenthalt im grauen und geteilten Berlin finanziert.

So pendelt die ins Theater verliebte Türkin eine Weile jeden Tag zwischen West und Ost, hospitiert in der Volksbühne und kehrt abends in ihr Westberliner WG-Zimmer zurück. Da begegnet sie der Westberliner Siebziger-Subkultur. Aufgenommen wird sie von einer Kommune, die zur Befreiung von allen Repressionen den Urschrei übt. In der WG wohnen auch einige selbst ernannte Feministinnen, die absichtlich keinen Orgasmus bekommen, um nicht von ihren Männern abhängig zu werden.

Diese "Alternativkultur" eignet sich auch die 1946 in der Türkei geborene Emine an, Brecht-Fab, die zuvor mit 19 zwei Jahre in einer Fabrik in Deutschland gearbeitet hatte. Sie frühstückt auch wie die anderen WG-Bewohner nackt, badet zu viert in einer dreibeinigen Badewanne und übt sich im free-sex. Politische Themen prägen auch den Alltag in dieser Kommune. Man liest Marx - ebenfalls in der besagten Badewanne. Die WG scheint verdächtig und wird als Folge der Terroristenfahndung mehrmals von den Polizisten durchsucht. Es wird heiß über den Tod von Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim diskutiert. Man liest auch in Özdamars Notizen über die Schlagzeilen der Westberliner Zeitungen: über die Schleyer-Entführung, die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Verhaftung Rudolf Bahros, über den kalten "deutschen Herbst".

Dennoch spielt Politik in Özdamars Erinnerungen an hochpolitische Zeiten eine verblüffend geringe Rolle. Gewollt naiv und kalt, kindlich und distanziert ist die Haltung der Erzählerin, der Exaktheit alles ist und individuelle Einstellungen und Gefühle nicht gelten. Ähnlich wie in ihren früheren Romanen Das Leben ist eine Karawanserei (1992)begleiten auch in Özdamars neuem Buch scharfe Zeitwahrnehmungen ihre Erinnerungen und Erlebnisse. Nur dass sie diesmal ein ganz persönliches Dokument vorlegt und unverwechselbar autobiografisch schreibt. In ihre Erzählung integriert sie zusätzlich Tagebuchnotizen und Probenbeobachtungen aus der Volksbühne.

Özdamars Tagebuch in Seltsame Sterne unterscheidet sich dennoch von denen, die von der Intimität des Authentischen leben. Sie hält zwar Monate und Jahre fest, legt Notizen an, die später als Vorlage für ihre Memoiren dienen. Es spiegelt aber ihre innere Welt, ihre erforschenden Gedanken, Visionen und Gefühlsüberschwemmungen nicht wider. Es enthält keine minutiöse Antwort auf die unausgesprochenen Fragen und verrät keine Geheimnisse. Özdamars Tagebuch leistet etwas anderes. Es lässt uns an jenen Prozessen teilnehmen, aus denen das Theaterabenteuer mit Benno Besson, Matthias Langhoff oder Heiner Müller entsteht. Die Tagebuchschreiberin tritt stets als bloße Zuschauerin eines Stückes auf, das sie detailliert protokolliert. Sie schreibt aus der Perspektive des Unbeteiligten und verweigert jeden Kommentar, jedes Mitleid und jede Stellungnahme.

In diesem Buch nimmt die Autorin auch Abschied von den sprachlichen Eigenheiten, für die sie 1991 beim Klagenfurter Literaturwettbewerb den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. In ihren früheren Werken war sie stets bemüht, neue Formen der Wahrnehmung und Beschreibung zwischen den Sprachen freizusetzen. Darin erprobte sie die Möglichkeiten anderer sprachlicher Gestaltungsformen und stellte so die Vorstellung der "Reinheit" von Sprachen und Kulturen in Frage. "Charakteristisch für Özdamars literarische Sprache ist vor allem die Tatsache, dass sie nicht vollkommen von der türkischen Muttersprache der Autorin losgelöst ist. Özdamar denkt auf türkisch und schreibt auf deutsch; damit integriert und löst sie ihre Muttersprache so in die deutsche Sprache auf, dass Spuren ihrer Migration auf stilistischer Ebene sichtbar bleiben", wie es die Literaturwissenschaftlerin Kader Konuk einmal formuliert hat. In Seltsame Sterne starren zur Erde schlagen keine sprachliche Verflechtungen und Verdrehungen mehr durch. Das Autobiografische ist der Kunst und der literarischen Ambition überlegen. Es ist ein persönliches Dokument über ein seltsames Glück, das noch immer anhält.

Emine Sevgi Özdamar: Seltsame Sterne starren zur Erde. Kiepenheuer, Köln 2003, 248 S., 19,90 EUR


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