Im Heim allein

AUF DER BÜHNE Johann Kresniks choreographische Version von "Hannelore Kohl"

Die Botschaft des Stückes ist bereits auf der zweiten Seite des Programmhefts abgebildet: Ein roter Stöckelschuh bohrt sich in das Fleisch einer dicken Birne. Um sie deutlicher zu vermitteln, wird neben der gelöcherten Birnen-Graphik Alice Schwarzer zitiert: "Sie hat sich gerächt. Sie ist am Benutztwerden gestorben. Ihr einsamer Tod ist der lauteste Schrei ihres Lebens." Geht es im Tanz-Theater-Stück Hannelore Kohl - Ich verbrenne von innen des Choreographen Johann Kresnik um das Leben des Ex-Bundeskanzlers oder um das seiner Gattin?

Für Kresnik untypisch wird nicht sehr oft und nicht sehr laut geschrieen. Als Zuschauer ist man gewöhnt, mit knalligen Bildern konfrontiert zu werden, mit abschreckenden Elementen wie etwa dem Feuer wird diesmal sparsam umgegangen. Entzündete in Die sechste Stunde (2003) noch die "Fremde" den Kinderwagen und die Schleppe der Unheil-Schwangeren, wird hier nur ein Stahlhelm als Zeichen des Kriegsbeginns ins Feuer gesetzt: Mit einer lodernden Schutzhaube rennt der Nazi-Vater der Ex-Kanzlergattin in der dritten Szene des Stückes so entzückt über die Bühne, als ob er Rubine tragen würde. Das frische und mit Blut beschmierte Fleisch kommt auch in Hannelore Kohl vor, aber nicht so ungeheuerlich groß und so immens viel wie am Ende von Goya. Helmut Kohl wirft das gehackte Fleisch in kleinen Portionen den Parteifreunden hin, die seinen Kurs unterstützen. Die Musik (Serge Weber) gibt sich ebenfalls verhältnismäßig zurückhaltend, die Ohren werden nicht nur mit grellen Klängen traktiert wie etwa bei Hundertjahre Einsamkeit (2004). Die Schauspieler und Tänzer müssen nicht fortwährend rennen (außer Patric Entat, Pedro Malinowski als Söhne Kohls), akrobatisch an einer zum Himmel gestreckten Säule rauf und runter klettern oder in Seilen schwingen. Man steigt höchstens mal auf das Klavier und setzt sich auf einen Stuhl, um etwa die Beethoven-Wohlklänge zu vernehmen, die ein Rollstuhlfahrer als Laie am Flügel zu erzeugen vorgibt. Johann Kresnik lässt das Leben und den unglaublichen Freitod von Hannelore Kohl in 22 Szenen ebenerdig spielen, um den Bezug zur Realität und deren wahre Substanz zu betonen.

Dass Kresnik sich alleine seiner Wahrheit verpflichtet fühlt, ist kein Geheimnis und rührt von seinem Verhältnis zum Theater her. Anfänglich tendierte er zum abstrakten Ballett und stellte sich 1967 mit dem Stück O SELA PEI am Ballettstudio der Kölner Bühnen als Choreograph vor. Die Studentenunruhen von 1968 und die Begegnung mit Ernst Bloch führten ihn jedoch bald vom abstrakten zum handlungsbestimmten Ballett mit politisch-sozialkritischem Impetus. In diesem Sinne feierte das Publikum das "Choreographische Theater" Kresniks etwa mit den Stücken Ulrike Meinhof, Rosa Luxemburg, Sylvia Plath, Frida Kahlo. Es ist offensichtlich, dass der österreichische Choreograph in seiner künstlerischen Laufbahn eine Leidenschaft für Biographien entwickelt hat. Dabei löschen die meisten seiner Frauenfiguren ihr Leben selbst aus. Die Amerikanerin Plath dreht den Gashahn auf. Die Mexikanerin Kahlo trinkt und raucht sich in den Tod. Die Deutsche Meinhof erhängt sich in der Gefängniszelle. Hannelore Kohl mixt sich einen tödlichen Giftcocktail: In der ersten Szene des Stücks tritt sie (getanzt von der Italienerin Simona Furlani) barfuss und im Schlafanzug auf, trinkt haltlos den Gift-Mix und schreibt unzählige Abschiedsbriefe an ihre Familie. Ab der zweiten Szene (Familienalbum) beginnt der Rückblick auf ihr Leben, das parallel zu der Szenerie der Bonner Republik und Kohls Karriere vom Landesvater zum Bundeskanzler dargestellt wird. Den Höhepunkt des 90-minütigen Stückes bilden zwei Szenen. In der einen stellen neun Frauen als Hannelore sich an einen Küchentisch, schneiden Zwiebeln und singen vor brennender Sehnsucht das Lied Wo bist du?. In der anderen positioniert sich ein fetter Laienschauspieler mit weißer Unterhose in der Gestalt Kohls in der Mitte des Raums und lässt grinsend sechs maskierte Männer mit Zylinderhut seinen nackten Körper mit großen DM-Stempeln versehen. Das sind die plakativen Pole von Kresniks biographischem Drama Hannelore Kohl. Wie üblich besetzt er die Hauptfigur mehrfach und lässt Laien mitspielen. Unüblich ist hingegen nicht nur die Musik, die wie ein ferner Kommentar wirkt, sondern auch das Vorkommen anderer Töne, in denen Skrupel, Trauer und Zärtlichkeit für die Kanzlergattin anklingen. Erweist Kresnik dadurch der letzten Entscheidung seiner Hauptfigur Respekt? Oder ist er nur altersmilde geworden?


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