Der aus der Türkei stammende deutsche Schriftsteller Selim Özdogan hat Sinn für Buchtitel. Mit verlockenden Slogans deutet er nicht nur das Thema an. Er verrät auch seine Grundeinstellung zum Sujet. Der Titel seines jüngsten Romans Die Tochter des Schmieds etwa lässt vermuten, dass die Geschichte dieser Tochter aus einer männlichen Perspektive erzählt werden würde. Tatsächlich wird die Hauptfigur des Romans, Gül, nicht als ein "eigenständiges Mädchen", sondern, der Tradition entsprechend, als Tochter des Schmieds Timur dargestellt.
Özdogan zelebriert diese patriarchalische Tradition an Gül, indem er die altväterliche Haltung seiner islamischen Vorfahren fortsetzt: Sie haben auch den Namen ihrer weiblichen Familienmitglieder in der Öffentlichkeit weder erwähnt noch gerufen. Wenn aber ihre Erwähnung erforderlich war, hat man sich mit dem Namen des männlichen Sprosses geholfen. So nannte man die Ehegattin zum Beispiel als "Mutter von Abbas", oder man bezeichnete sie einfach wie ein Gegenstand, zum Beispiel als "mein Haus"!
Gül wird zwar in Özdogans Roman nicht als "Haus" behandelt, sie fungiert dennoch fortlaufend als "Haushälterin". Stets ist sie dabei, zu kochen, zu waschen, zu putzen und Kinder aufzuziehen. Sie war selbst noch ein Kind, als sie angefangen hat, für ihre zwei kleinen Schwestern die Rolle der Mutter zu übernehmen, weil ihre eigene Mutter sehr früh gestorben ist. Dann zieht sie ihre zwei kleinen Halbgeschwister groß. Als sie nähen lernt, kümmert sie sich um das Kind ihrer Nähemeisterin. Nach der Heirat sind die Geschwister ihres Mannes an der Reihe, und dann die Kinder von Suzan Abla, und dann ihre eigenen zwei Töchter, und dann ... Wenn es ein Märchen wäre, hätte man den märchenhaften Schlusssatz geschrieben: "... Und wenn sie nicht gestorben wäre, hätte sie noch mehr Kinder großziehen wollen!"
Die mütterlichen Tugenden Güls passen wunderbar zu dem religiösen Rollenverständnis aus patriarchalischer Sicht. Um dieser Rolle zu huldigen, zitiert man gerne in islamisch geprägten Ländern den Propheten Mohammad: "Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter." Gül ist aber im Buch noch nicht im Paradies gelandet. In den letzten zwei Seiten des Romans taucht sie persönlich auf und erzählt uns mit ihren eigenen Worten, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod habe und ihre Mission nun fast zu Ende sei. Wie diese Mission aussah, darüber klärt uns der Schriftsteller Özdogan auf 316 Seiten und aus der Perspektive des Alleswissers auf.
Gül bestand aus nichts anderem als kochen, waschen, putzen und Kinder aufziehen, immer und überall, in allen vier Jahreszeiten und 365 Tage im Jahr. Sie arbeitet wie ein Roboter, wort- und lautlos, mit zum Boden gerichtetem Blick. Ihre Gefühle bleiben hinter der Maske der Zurückhaltung und Schüchternheit unsichtbar. Sie wird nur gelegentlich beleidigt und manchmal auch traurig, wenn sie ungerecht behandelt wird. Zuweilen wirkt sie wie ein stumpfsinniges Arbeitstier, das nie Fragen stellt und nie neugierig wird. Sie träumt nicht und hat keine Ideale. Kein "technisches Wunder", keine weltbewegende Erfindung lösen in ihr Empörung aus. Radio, Kino, Auto, die industrielle Revolution dieser Epoche erwecken nicht einmal ihr Interesse, geschweige denn ihre Faszination. Als Naturmensch wird sie von den Landschaften, Feldern und Wäldern auch nicht begeistert. Die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse gehen an ihr und ihrem tristen Alltag vorbei.
Der zweite Weltkrieg und seine fatalen Folgen erreichen sie und das abgelegene Dorf in Kleinasien überhaupt nicht. Selbst als sie ihrem Mann in den fünfziger Jahren mit einem Pappkoffer folgt, der nach Deutschland kommt, um dieses von Bomben zerstörte Land aufzubauen, wird der Krieg nicht thematisiert. Sie ist mit ihrem eigenen unendlichen Krieg gegen Dreck und Fleck, Rotz und Schmutz der Kinder viel zu beschäftigt. Nach dem traditionellen und klischeehaften Muster einer "braven, frommen und treuen Ehefrau und Mutter" gestrickt, bleibt Gül bis zum Ende Missionarin einer ungerechtfertigten Beschränktheit, die ihr der Autor aufzwingt, weil er sich konzeptionell im Rahmen jener prophetischen Botschaft bewegt, dass das Paradies unter den Füßen der arbeitsamen Mütter liegt.
So verschenkt Özdogan ein paar großartige Momente, die er selbst andeutet und in denen sich Gül als ein "eigenständiges Mädchen" entfalten könnte. Sie liest etwa als junge Frau Liebesromane und als Mutter zweier Kinder religiöse Texte. Sie setzt sich aber gedanklich nie mit den Themen ihrer Lektüre auseinander und lernt nie etwas aus den Schriftstücken. Über den Inhalt der Bücher erfährt der Leser ebenfalls nichts. Doch er merkt dadurch, dass der Schriftsteller Özdogan zwischen dem nacherzählenden und dem erforschenden Familienroman ein einfaches Gleichheitszeichen setzt. Als Nacherzähler baut er auf die Erinnerungen derjenigen, die ihm über ihre Erlebnisse berichteten und nimmt Abstand von der Haltung des Erforschenden, der auch von seinen erworbenen Kenntnissen und Eindrücken sowie von dem erzählen soll, was ihm womöglich entgangen ist.
Gül fehlt in ihrem von der Tradition geformten Charakter etwas, das sie als "eigenständiges Mädchen" wirken lässt. Doch man schließt sie sofort ins Herz, wenn man sie näher kennen lernt. Sie ist tugendhaft, elegant und liebenswürdig. Man leidet mit ihr und wünscht ihr mehr Mut, Phantasie und Durchsetzungsvermögen. Nicht weil man eventuell ein Herz für Mütter hat, sondern weil sie der Schriftsteller Özdogan mit soviel Sympathie und Respekt für die Menschen ausgestattet hat. Mit einer einfachen und einfühlsamen Sprache und dem Charisma der Genauigkeit ist es ihm auch in seinem jüngsten Roman gelungen, grandiose Bilder des Lebens und der menschlichen Beziehungen im Mikrokosmos des Kleinasiens der vierziger und fünfziger Jahre zu entwerfen.
Selim Özdogan: Die Tochter des Schmieds. Roman, Aufbau, Berlin, 318 S., 19,90 EUR
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