Ein waagerechter Strich, ein senkrechter, und ein Kreis. Damit fängt der jüngste Roman der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak an. Der waagerechte Strich steht für die Wahrheit, der senkrechte für die Lüge und der Kreis ist "das Ersponnene". Auf diesen drei geometrischen Elementen baut Shafak ihren wunderbaren Roman Der Bonbonpalast auf. Der Kreis ist in dieser Konstellation fundamental. Denn er verfügt über besondere Eigenschaften, die zum fulminanten Erzählstil des Ich-Erzählers passen: "Man kommt von jedem beliebigen Punkt aus in den Kreis, denn einen verbindlichen Start gibt es nicht. Auch keine Schwelle, keinen Ausgangspunkt und kein Ziel." Mit dieser mathematischen Erklärung über die körperlosen Elemente ist die Richtung des sich weit verzweigenden Romans angegeben.
Die Handlung beginnt am 1. Mai 2002, an einem Mittwoch, um 12 Uhr 20. In dieser Zeit biegt ein schwerer Lastwagen aus einer Istanbuler Hauptstraße in eine Nebenstraße, fährt an circa 500 Demonstranten und 1.300 Polizisten vorbei und erreicht mit einer Stunde und 45 Minuten Verspätung endlich sein Ziel; den schäbigen Bonbonpalast, der vor einer Ewigkeit von einem emigrierten russischen General auf dem Boden zweier alter Friedhöfe gebaut wurde. An diesem einzigen Punkt sind alle Figuren des Romans verankert. Sie haben ein großes Problem, das gleichzeitig die Mission des Fahrers dieses Lastwagens ist. Diese ist auf den Seiten des Lieferwagens gemalt: "Säuberung, Bekämpfung gegen Läuse, Kakerlaken, Flöhe, Wanzen, Ameisen, Spinnen, Fliegen, Mäuse und Schädlinge aller Art". Der Bonbonpalast wimmelt nur so von solchem Ungeziefer.
In diesem Seuchenherd leben auch Menschen aller Art: Ein suizidgefährdeter und Marihuana rauchender Medizinstudent, der mit den Tieren besser auskommt als mit den Menschen; ein Philosophie-Professor, der seinen Problemen mit Raki und Zigaretten begegnet und seine Frau mit ihrer besten Freundin betrügt; eine junge Schönheit genannt "Blaue Mätresse", die die Qual des Lebens nur ertragen kann, indem sie sich die Haut an den Beinen aufritzt; eine mit einem untreuen türkischen Künstler verheiratete russische Wissenschaftlerin, die die Welt der Menschen in den Kategorien der Insektenwelt definiert; das ehrfürchtige alte "Tantchen Madam", das sich nur in der Dunkelheit der Vergangenheit lebendig fühlt; ein streng religiöser Hausmeister, der mit seinen Horrorgeschichten über Dschinns und dergleichen die Seele seiner drei Enkel vergiftet; die Zwillinge Celal und Cemal, die kaum unterschiedlicher sein könnten und die einen Friseursalon im Erdgeschoss des Palastes besitzen. Dieser ist das Herzstück der Geschichte, in dem aller Tratsch und Klatsch über die Bewohner des Hauses zirkuliert. Einige dieser skurrilen Figuren sind Einwanderer aus aller Welt und bringen auch die Eigenarten ihrer Kultur mit.
In diesem kuriosen Mikrokosmos studiert Shafak die tiefsten Abgründe der modernen türkischen Seele. Mit kritischem Blick untersucht sie die Innenwelt einer Gesellschaft, die von "Müll, Gestank und Kakerlaken" überfüllt ist und unbedingt "gesäubert" werden muss. Sonst wäre die Existenz und Legitimation des Staates in Gefahr; so die Botschaft des Romans. Vor allem habe die türkische Gesellschaft die herrschenden traditionellen Verhältnisse zu überdenken und sich mit ihrer Vergangenheit und Geschichte auseinanderzusetzen.
Als Elif Shafak in ihrem fünften Roman Der Bastard von Istanbul eine ähnliche Botschaft versteckte, musste sie sich vor Gericht verteidigen. Ihr wurde, gemäß dem berüchtigten Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, die "Beleidigung des Türkentums" vorgeworfen. Der Grund: Die 37-jährige Schriftstellerin lässt in ihrem Buch über den Völkermord der Türken an den Armeniern im Ersten Weltkrieg eine fiktive Figur zu Wort kommen. Das Thema ist in der Türkei nicht nur tabu; es ist sogar strafwürdig. Die Äußerungen der Romanfigur Shafaks entsprechen nicht der offiziellen Geschichtsschreibung, die den Völkermord an den Armeniern leugnet. Während des Prozesses stieg die Auflage der türkischen Ausgabe des Romans bis auf die schwindelerregende Zahl von 60.000 Exemplare an. Shafak wurde im September 2006 freigesprochen. Das verdankte sie jenem Flügel der türkischen Regierung, der die weitere Annäherung an Europa befürwortet. In Shafaks Fall obsiegten sie gegen ihre Gegner.
In der literarischen Landschaft ihres Landes kämpft Shafak dem Anschein nach alleine. Sie gehört weder zur "fortschrittlichen" noch zur "konservativen" Fraktion der türkischen Literaten. Die erste Gruppe könnte man als diejenigen Schriftsteller definieren, in deren Werken "das Osmanische Erbe" als überholt dargestellt wird. Sie neigen dazu, in ihren Romanen die "kemalistischen oder linken" Werte zu vermitteln. Die "konservativen" Schriftsteller behandeln dieses Thema viel unkritischer oder nostalgischer. Shafak sitzt mit ihren Romanen genau zwischen diesen beiden Stühlen. In Der Bonbonpalast bastelt sie für ihre sympathischen und in den unbarmherzigen Ritualen ihrer Gesellschaft gefangenen Figuren neue Lebensentwürfe. Obwohl der Plot ihres Romans kaum der Rede wert ist, haben die Figuren am Ende dieses 480 Seiten starken Werkes eine massive Veränderung erlebt. Die Schilderung dieser Wandlung überlässt die Schriftstellerin dem namenlosen Ich-Erzähler, dem Philosophie-Professor, der plötzlich in der Mitte des Romans "von einem beliebigen Punkt aus in den Kreis" einsteigt und mit der Komik des Slapsticks, kombiniert mit der Spannung der psychischen Studie, und vorangetrieben von der Kraft gesellschaftlicher Reflexion seine "waagerechten Wahrheiten" und "senkrechten Lügen" erzählt. Er ist übrigens einer der 500 Demonstranten, an denen der Lieferwagen am Anfang des Romans vorbeifährt. Und mit seinem Erscheinen in den letzten Seiten schließt sich der Erzählkreis.
Elif Shafak Der Bonbonpalast. Aua dem Türkischen übersetzt von Eric Czotscher. Eichborn, Frankfurt am Main 2008, 480 S., 19,95 EUR
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