Mut der Verzweiflung

Gegen die Klischeebilder Zwei Bücher zur Lage der Frauen in Afghanistan

Mittlerweile kennt jeder das Klischeebild einer Afghanin: Ein in eine blauen Burqa gehülltes und nicht identifizierbares Wesen. Die Taliban dekretierten, dass Frauen in der Öffentlichkeit keine menschliche Form aufweisen durften. Was aber hinter diesem blauen Vorhang von menschlicher Stärke zu entdecken ist, verraten uns zwei Bücher unterschiedlicher Genres: eine authentische Geschichte mit dem eindringlichen Titel: Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen der iranischen Dokumentarfilmerin Siba Shakib und ein unkonventionell geschriebenes Sachbuch Die Politik ist ein wildes Tier. RAWA - Afghanistans Frauen kämpfen um ihre Zukunft von den in Wien lebenden Autorinnen Edit Schlaffer und Cheryl Benard.
RAWA ist die Abkürzung für Revolutionary Association of the Women of Afghanistan, einer 1977 gegründeten Frauenorganisation. Die Feministinnen Schlaffer und Bernard lenken in ihrem Buch den Blick auf die geheimen Aktivitäten dieser mutigen Organisation und machen sich dabei deren Perspektive ganz zu Eigen. In ihre Darstellung beziehen sie zwar auch Briefe der Sympathisanten aus aller Welt, Interviews mit den Mitgliedern und Gespräche mit den Betroffenen ein. Es scheint aber, dass sie nicht die Absicht hatten, ein kritisches oder wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Buch zu schreiben. Genau das macht seinen Charme aus. Er wächst aus der emphatischen Zustimmung der Autorinnen zu einem friedlichen Widerstand der Afghaninnen gegen einen brutalen und repressiven Aggressor namens Taliban, in einem Umfeld, in dem Frauen von Geburt an abgewertet und entmutigt werden, in einem abgelegenen Land, von dem kaum einer etwas wusste und für das sich niemand so recht interessierte.
RAWA hat in ihrem 25-jährigen Bestehen viele Veränderungen erlebt. In den Anfängen versammelte die Organisation eher gebildete Frauen der modernen städtischen Mittelschicht. Sie lasen persische Dichter und diskutierten über die moderne Welt. Unter dem Taliban-Regime war es mit den Dichtungsversammlungen passé. Die Vision, ein besseres Leben zu gestalten, war aber immer noch aktuell, obwohl die Ansprüche bescheidener aussahen. Es reichte schon, wenn frau die Möglichkeit bekommen konnte, Lesen und Schreiben zu lernen und die unerträglichen Umstände eines Flüchtlingslebens zu überleben. So wurde auch RAWAs Organisationsstruktur umgewandelt: Neben der Gründergeneration sind auch die Witwen, junge und bedürftige Frauen aus den Flüchtlingslagern aktiv geworden.
Nach ihrer Selbstbeschreibung sind RAWA-Frauen feministisch und antifundamentalistisch, prodemokratisch und säkular orientiert. Sie wollen Gleichberechtigung, freie Wahlen und die Trennung von Religion und Politik. Auffällig ist ihre beeindruckende Organisationsstruktur und Effizienz. E-Mail-Korrespondenz wird ordentlich geführt. Ihre Webseite verkauft T-Shirts mit Abbildungen ihrer Gründerin und Märtyrerin Meena. Sie unterstützen auch soziale Projekte wie eine Hühnerfarm oder Imkerei. Dadurch sichern sie Arbeitsplätze für mittellose Frauen, die vielleicht zuvor in RAWAs eigenen Schulen und ihren Alphabetisierungskursen heimlich geschult worden waren.
Shirin-Gol, die Protagonistin des Buches Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen könnte auch RAWA-Mitglied sein. Man schließt sie sofort ins Herz, wenn man sie kennen lernt; diese zähe, neugierige und mittellose Frau mit großem Herz. Ihr einziges Kapital ist der Mut, den sie einsetzt, um einen Ausweg aus ihrem Flüchtlingsunglück zu finden.
Man schreibt das Jahr 1979: In den folgenden zweiundzwanzig Jahren herrschen Krieg, Hunger, absolute Rechtlosigkeit und Armut in Afghanistan. Diesen unmenschlichen und grausamen Wirrwarr zu überleben, ist für Shirin-Gol noch schwieriger, weil sie eine Frau ist. Sie ist Mutter von sieben Kindern, vier von ihnen hatte sie dabei, als sie ihre "Lebensschreiberin" Siba Shakib kennen lernte. Die Kinder sehen alle unterschiedlich aus, als wären sie von ungleichen Müttern und Vätern. Das macht den Beamten Malek skeptisch, der zuständig ist, in einem Übergangslager der Vereinten Nationen für afghanische Rückkehrer aus dem Iran Weizen zu verteilen. Er unterstellt ihr, die Kinder geliehen zu haben, um mehr Weizen in Anspruch zu nehmen. Wahr ist aber, dass die unterschiedlich aussehenden Kinder der Shirin-Gol gehören. Nur ihre Väter sind verschieden. Sie sind Kinder des Krieges, der nicht freiwilligen Prostitution, der Vergewaltigung und der Not.
Während der letzten Station des Krieges, als Shirin-Gol die Autorin auf dem Übergangslager zum ersten Mal trifft, ist sie immer noch auf den Beinen. Obwohl sie weiterhin von Not und Elend gefesselt ist, kämpft sie gegen das Unglück, besorgt UNO-Stempel für einen Sack Weizen und denkt gleichzeitig an eine bessere Zukunft, die gerechter entworfen werden muss. Deshalb ergreift sie selbst die Initiative, als sie erfährt, dass die Autorin an einem Buchprojekt arbeitet und bietet ihr ihre Geschichte an. Sie ringt nicht nur mit dem Hunger, sondern auch gegen das Vergessen.
Shirin-Gol war ein kleines Mädchen, als die Russen in Afghanistan einmarschierten. Der streng gläubige Vater und ihre Brüder ziehen in die Berge und schließen sich dem Widerstandskampf der Mujahedin an. Sie sind gegen Bildung für Mädchen und den öffentlichen Auftritt der Frauen ohne Schleier und männliche Begleitung. Shirin-Gols Schwestern legen dennoch den Schleier ab und verführen russische Soldaten. Nicht als Protest gegen die Korangläubigkeit des Vaters, sondern weil sie den Feind, die russischen Soldaten ermorden wollen.
Shirin-Gol geht in die Russenschule, vor der sie sich zunächst fürchtete. Nach dem Einzug der Mujahedin in die Hauptstadt sucht die nun verheiratete Shirin-Gol Zuflucht in einem Flüchtlingslager an der Grenze zu Pakistan. So beginnt ihr Flüchtlingsleben in Not, Elend und Erniedrigung, das mehr als zwanzig Jahre anhält.
Shirin-Gol ist eine exemplarische Geschichte, die auf purer Erfahrung und nicht auf psychologischer Plausibilität beruht. In ihr spiegeln sich die Erfahrungen einer Zeitzeugin, die gelegentlich persönliche Kontur gewinnt. Shakibas Sprache lebt von den Beschreibungen, Wiederholungen und einem hektischen Rhythmus, der zwar in bestimmten Passagen Spannung erzeugt, als großflächig eingesetztes Mittel aber den Gleichmut am Lesen raubt. Man hält jedoch durch, ihrer Protagonistin wegen, die beim Erzählen trotz ihres unerträglichen und verheerenden Lebens nicht jammert oder in Pathos verfällt.
Beklagt haben sich dennoch Shirin-Gols Schwestern und RAWA-Frauen vehement, als sie von der Bonner Tagung im letzten Jahr ausgeschlossen wurden, bei der über die Zukunft Afghanistans diskutiert wurde. Um ihrem Protest mehr Gehör zu verschaffen, haben die beiden Autorinnen die Organisation Frauen ohne Grenzen gegründet, ein internationales Bündnis zur Unterstützung der RAWA-Projekte, mit deren Aufbau vor allem das Klischeebild der Afghanin völlig zerstört werden soll.

Edit Schlaffer, Cheryl Benard in Kooperation mit Asifa Homayoun von RAWA: Die Politik ist ein wildes Tier. RAWA - Afghanistans Frauen kämpfen um ihre Zukunft. Droemer Verlag, München 2002, 257 S., 19,90 EUR
Siba Shakib: Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen. Die Geschichte der Shirin-Gol . Verlag C. Bertelsmann im Random House, München 2002, 318 S., 22 EUR
www.frauenohnegrenzen.org

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