Sieben Nächte lang dauert es, bis Nuscha, die Hauptfigur des Romans Das Jahr des Aufruhrs des iranischen Schriftstellers Abbas Maroufi, stirbt. Alle Bewohner der Provinzstadt Ssangssar im Norden Irans glauben, dass sie Aussatz hatte. Das Gerücht verbreitet ihr eigener Mann, der Arzt Doktor Ma´ssum, um sich an Nuscha zu rächen. Sie ist nämlich die einzige verwöhnte Tochter eines Teheraner Offiziers unter dem Shah-Regime, der nach Ssangssar geschickt wurde, um die politischen Unruhen dort zu unterdrücken. Man schreibt das Jahr 1941, in dem die Russen, nach dem Überraschungsangriff Hitlers auf die Sowjetunion, in Nord-Iran einmarschierten. Im August desselben Jahres drangen die britischen Truppen in den neutralen Iran ebenso ein. Das Land wurde in eine südliche britische und eine nördliche sowjetische Zone aufgeteilt. Die Landesmitte blieb "neutral". In dem Wirrwarr des Kriegs und dem sozialen Tumult verliebt sich Nuscha in einen Töpfer, Hosseina, der in Ssangssar auf der Suche nach seinen verschwundenen Brüdern ist.
Schon mit dem ersten Satz wird der Leser in Bann geschlagen, ohne dass er begreift, wovon in dem böse funkelnden Text die Rede ist: "Der Galgen warf einen langen Schatten. Bedrohlich und fremdartig. Tagsüber, nachdem die Sonne aufgegangen war, kroch er an allen Geschäften und Häusern entlang." Beim Weiterlesen stellt man fest, dass der Text keine Konzessionen an Logik und Lesbarkeit macht, obwohl die Ich-Erzählerin im zweiten Abschnitt auftaucht und die Galgen-Geschichte in das Bild unzähliger Schläge mit einer Mauserpistole auf ihren Kopf überleitet. Ihr Geschlecht lässt sich freilich nicht schnell erfassen, bis sie anfängt, sich in ihrer Erinnerung zu schminken und "ein paar Härchen an den Rändern der Augenbrauen" auszuzupfen. Dann erscheint eine weinende Frau und spricht von Hunger, Kälte, Einsamkeit und Blut. Es dauert eine Weile bis der Leser begreift, dass die Ich-Erzählerin und die weinende Frau identisch sind. Die äußere Handlung aber erzählt der Autor aus seiner Vogelperspektive. Obwohl Maroufi eher zu den konventionellen Vertretern des nouveau roman zählt, ist sein Text schwer verständlich. Ohne die Codes seines Stils zu entziffern, ist die "story" kaum zu erfassen. Damit folgt er dem Trend der modernen iranischen Literatur, die größeren Wert auf die Rätselhaftigkeit des Textes legt als auf einen dramaturgisch aufgebauten, komplexen Stoff.
So wandelt Nusha, verletzt, verlassen und verzweifelt zwischen Zeiten und Orten und versinkt in einem anhaltenden Delirium. Sie erinnert sich stets an ihren gewalttätigen, geizigen und impotenten Mann, den Arzt, Doktor Ma´ssum. Als Ehemann war er nie in der Lage, Nuschas leidenschaftliche Gefühle zu erwidern. Seine dunkle Kraft schöpfte er aus einem einzigen Gefühl, aus dem Rachegefühl, der Vergeltung an dem früheren Geliebten seiner Frau. Doktor Ma´ssum ist im Grunde das heimliche und unheimliche Triebwerk dieser Geschichte, der die unheilvollen politischen Umstände während des Zweiten Weltkrieges ausnützt, um seinen eigenen Willen durchzusetzen. Mit Gewalt und Galgenhumor begegnet und meistert er die historischen Geschehnisse zu seinen Gunsten, um am Ende seinen "Rivalen" am Galgen hängen sehen zu können. Im Roman Das Jahr des Aufruhrs geht es um Mord aus Eifersucht.
Eine andere Variation des Mordes war ebenso das Thema des 1996 auf Deutsch erschienen Romans Symphonie der Toten von Maroufi. Darin geht es um Brudermord. Die Geschichte ist so alt wie der erste Brudermord in der Welt, der im Koran (5. Sure) erzählt wird und als der Fall von Kain und Abel bekannt ist. Die Sure fungiert als Ouvertüre dieses Romans, in dem Kain Urhan heißt und Abel auf den Namen Aidin hört. Der zarte und einfühlsame Aidin, der Dichter werden will, symbolisiert die Güte, der grobe, gierige und geizige Urhan stellt das Böse dar. Ein ungleicher und makabrer Kampf, bei dem sowohl Aidin als auch Urhan verlieren.
Symphonie der Toten beginnt in einem kalten Klima und vibriert dennoch vor innerer Nervosität: An einem Winternachmittag macht Urhan sich auf die Suche nach seinem Bruder, um ihn umzubringen. Sein Motiv: Die Rettung seines mit Schweiß und Fleiß gesammelten Vermögens. Urhan ist nicht alleine unterwegs. Begleitet wird er von einer Schar von Toten. Die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit könnte heilend wirken, Urhan erinnert sich jedoch nur an seine Verletzungen. Hass, Neid und Selbstmitleid rechtfertigen seinen Wunsch nach Vergeltung. So führen die Erinnerungen zu immer neuer Zerstörung, die jedoch den überraschten Urhan selbst treffen. Am Ende richten ihn die Kälte und seine Erinnerungen zugrunde.
Charakteristisch ist in diesem Roman nicht nur die metaphorische Erzählweise sondern seine fatalistische Deutung der Ereignisse: In jedem Satz dieser Symphonie folgt dem Bild des Lebens unerwartet das Bild eines schicksalhaften Todes auf dem Fuß. Das Aufblühen endet mit dem Abfaulen. Das Heranwachsen verwandelt sich in ein Absterben. Aidins große Liebe endet mit dem Tod seiner Geliebten, die Heirat seiner Schwester führt zu ihrem Selbstmord ...
Symbolisch Selbstmord übt auch Nuscha im Roman Das Jahr des Aufruhrs, als sie ihre Liebe zum Töpfer Hosseina aufgibt und nach Wunsch ihrer Mutter standesgemäß den Doktor Massum heiratet. Sie wird im Buch meistens in einer Sinnesverwirrung dargestellt. Wenn sie sich an ihre Vergangenheit und an ihren bewussten Zustand erinnert, ist sie voller Sehnsucht und verführerisch. Zuweilen provoziert sie etwa mit ihren "weit gespreizten Beinen" beim Sitzen die Männer und wenn diese sie sexuell belästigen und "schwer atmend" an ihre Brust fassen, schimpft sie zwar mit ihnen, deutet aber unbeeindruckt unmittelbar an: "Und ich legte beide Hände auf den Kopf, um meine Haare auszureißen, wie Weiber sich gleich Zigeunern eben aufführen." Den Zigeunern wird in iranischer Kultur nachgesagt, "sie machen viel Lärm wegen unbedeutenden und harmlosen Angelegenheiten." Nuscha reißt ihre Haare nicht aus, und als ob ihr nichts geschehen wäre, erzählt sie von empörender und heftiger Reaktion ihrer Mutter weiter. Am Ende der Episode kommt sie gelassen zur Schlussfolgerung: "Aber was soll´s."
Diese charakteristische Darstellung, die den männlichen Blick des Autors bei der Schöpfung seiner Frauenfigur markiert, wird durch die ungenaue Übersetzung relativiert: "Und ich griff mit beiden Händen in meine Haare und begann sie zu raufen, wie Frauen sich eben aufführen." Artig und lautlos führt sich Nuscha aber auf, als Ma´ssum ihr den schweren Pistolengriff auf den Kopf schlägt. "Ich hob die Arme, um die ersten Schläge abzuwehren." Dennoch stirbt sie an den Folgen dieser brutalen Schläge nach sieben Nächten, hinterlässt uns aber in Maroufis präziser Sprache, beseelt von einer dichten und spannenden Atmosphäre, die klare Botschaft der Unvereinbarkeit von Vernunft und Leidenschaft.
Abbas Maroufi : Das Jahr des Aufruhrs (Sal-e balwa). Roman. Aus dem Persischen von Anneliese Ghahraman-Beck. Insel, Frankfurt am Main 2005, 320 S., 22,90 EUR
Abbas Maroufi: Symphonie der Toten. Aus dem Persischen von Anneliese Ghahraman. Suhrkamp-Taschenbuch, Frankfurt am Main 1998, 355 S., 9,99 EUR
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