Nazneen, der Name der Hauptfigur des Romans Brick Lane bedeutet auf bengalisch Liebling, Schatz. Die Bengalinnen schätzen sich glücklich, wenn sie mit solchen Koseworten angesprochen werden, weil dies äußerst selten vorkommt. Nazneen im Debütroman der in Bangladesh geborenen Autorin Monica Ali wird zwar von ihrem gläubigen Liebhaber Karim nicht als "Schatz", sondern ungewöhnlicherweise als "Schwester" angeredet, sie fühlt sich aber am Ende der Geschichte auch glücklich. Denn sie kann endlich nach einem langen, harten Leben selbst über ihr Schicksal bestimmen.
In einer nüchternen Erzählhaltung schildert die 37-jährige Autorin Nazneens Geschichte: Mit 18 Jahren heiratet sie den doppelt so alten Chanu, der als Kleinangestellter in London lebt. Chanu wird als ihr zukünftiger Mann zwar von ihrem Vater ausgesucht, sie erklärt sich aber ungezwungen mit seiner Entscheidung einverstanden. Trotz seines Froschgesichts und seines Riesenbauchs ist er ein liebeswürdiger und gebildeter Ehemann. Abends bildet er seine Frau in ihrer kleinen Wohnung im vierten Stock eines schäbigen Wohnblocks in Tower Hamlets im Londoner Eastend weiter, während sie ihm die Hühneraugen von den Zehen schneidet. Chanu offenbart ihr vor allem Wahrheiten über die Diskriminierung der Minderheiten in der britischen Gesellschaft. Er berichtet ihr über die gerechten und ungerechten Ereignisse, die sich außerhalb von Nazneens vier Wänden abspielen und ihr Verständnis vom Leben weit übersteigen. Diese Erkenntnisse helfen Nazneen später, sich von der völligen Isolation in der Fremde, die sie jahrelang schweigend ertragen musste, zu befreien.
Die vielschichtige Geschichte Nazneens funktioniert zum einen als einfühlsame Dokumentation über Immigranten und ihr Leben in England. Rückblickend sortiert Nazneen beim Kochen, Waschen und Nähen ihre Erinnerungen an ihre Kindheit in Bangladesh und lüftet so nach und nach für sich selbst die Geheimnisse der Kultur ihrer Heimat, die von Konvention und Religion geprägt ist. Auch die Tumulte der Politik kommen nicht zu kurz. Es gibt viele rassistische Auseinandersetzungen in Londons Tower Hamlet-Viertel, in dem überwiegend Inder, Pakistanis und Bengalen leben. Die radikalen Islamisten, die die kritische Situation der Einwohner zu ihren Gunsten ausnutzen wollen, nehmen im Roman einen besonderen Platz ein. Dabei werden auch die Anschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center geschildert.
Obwohl die Geschichte in der Brick Lane die Zeit von Mitte der achtziger Jahre bis 2002 umspannt, kann sie die Balance zwischen den privaten Dramen und den politischen Weltgeschehen oft nur schwer halten. Auch die Dialektik zwischen Schein und Sein mancher Charaktere bleibt oft auf der Strecke, obgleich die Autorin eine Vielzahl gelungener Figuren in der Brick Lane versammelt hat. Ali baut uns etwa Nazneen und Karim in der Mitte der Geschichte als ein Liebespaar auf, das nur nach einem "westlichen Muster" funktioniert. Obwohl beide streng gläubig sind, stets beten und das Wort Gottes, den Koran zitieren, pflegen sie eine intensive Liebesbeziehung zueinander. Dazu kommt, dass Nazneen immer noch verheiratet ist und mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt. Weder der Glaube noch die familiäre Bindung dieser künstlich aufgebauten Figuren sind so stark, will uns Ali glaubhaft machen, um sie daran zu hindern, "solch schändlichen Taten wie den Ehebruch" nicht zu begehen, besonders nicht im Ehebett von Nazneen.
Es ist intellektuell natürlich nicht ohne Reiz, die Liebeskonvention einer religiös geprägten Kultur in einen anderen Kontext zu überführen, um zu beobachten, ob sie da auch funktioniert oder nicht. Das müsste aber ästhetisch eingeleitet und vor allem inhaltlich von den Figuren reflektiert werden. Ein Problem ist besonders der perfekte Zuschnitt des Charakters von Nazneen. Er entspricht vollkommen der Dramaturgie eines Entwicklungsromans. Zuerst wird sie als eine gehorsame Muslimin dargestellt, die ihre traditionell zugewiesene Rolle auch fern der Heimat ohne Klage fortsetzt und ein isoliertes Leben im Londoner Eastend führt. Am Ende des Romans verwandelt sie sich in eine eigenständige Frau, die nach finanzieller Unabhängigkeit strebt. Um ihre emanzipierten Züge zu vollziehen, teilt Ali ihr noch eine Portion sexuelle Emanzipation zu, ohne aber den ästhetischen Fortgang dem kulturellen Inhalt anzupassen.
Eine andere Figur hat sich aber seit ihrer Einwanderung nach London den britischen Sitten angepasst: Die Ehefrau des Mediziners Dr. Azad trägt sündige Miniröcke, trinkt ständig und argumentiert: "Anpassung hier, Entfremdung dort. Ich will Ihnen ein paar schlichte Tatsachen nennen, Tatsache: Wir leben in einer westlichen Gesellschaft. Tatsache: Unsere Kinder werden sich mehr und mehr wie Menschen im Westen verhalten. Tatsache: Und das ist gar nicht schlecht. Meine Tochter kann kommen und gehen wann sie will. Wünschte ich, ich hätte als Jugendliche die gleichen Freiheiten gehabt? Ja!" sagt die Frau ohne Hemmung und trinkt weiter ihr Bier.
Schon vor seinem Erscheinen wurde der Roman Brick Lane auf die Granta-Liste der vielversprechendsten englischsprachigen Autoren gewählt. Kaum gedruckt, stand das Buch auf der Shortlist des hoch begehrten Booker Prize und ganz oben in den Bestsellerlisten. Monica Ali verhandelt und verwandelt in Brick Lane ihr eigenes Schicksal: die Geschichte einer jungen Frau aus Bangladesh, die wie sie 1971, mit drei Jahren das Land ihres Vaters verlassen hat, um mit ihrer englischen Mutter in ihrer Heimat zu leben.
Aus diesem Blickwinkel behandelt Ali humorvoll in Brick Lane eine Reihe von Themen, die im Zeitgeist der Multikulturalität und Globalisierung hoch aktuell sind: Gegenseitige Anerkennung verschiedener Kulturen und Religionen, Lebenseinstellungen, Identitäten und Lebensarten. Die letzte Passage im Buch, in der Nazneen mit ihren Töchtern und ihrer Freundin in einem Eisstadion in ihrer bunten Tracht, im Sari Schlittschuhlaufen geht, spiegelt wunderbar die alte Sehnsucht nach Toleranz und Freiheiten wider: "Aber man kann doch nicht in einem Sari Eislaufen", sagt Nazneen. Die Freundin antwortet: "Wir sind in England. Du kannst tun und lassen, was du willst!"
Monika Ali: Brick Lane. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Droemer, München 2004, 544 S., 19,90 E
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