Sie nimmt mich mit

Traum einer Verweigerung Shirin Kumms Debüt »Royadesara« ist eine unfertige Liebesgeschichte aus der Welt als Irrenhaus

Bekanntlich gibt es ein Recht zu phantasieren. Und zwar nicht nur in der Literaturwelt, sondern auch in der Realität. Von diesem Recht macht die seit den achtziger Jahren in Frankfurt lebende Perserin Shirin Kumm in ihrem Debütroman reichlich Gebrauch und beginnt geschickt mit dem Titel: Royadesara. Diese Wortkombination, die aus dem persischen Ausdruck Roya (Traum) und dem englischen Begriff desire (Sehnsucht) gebastelt wurde, beschreibt den »magischen und unirdischen Zustand der namenlosen Hauptfigur des Romans. Royadesara sei ihre Magie, ihr Geheimnis, ein sonderbares Geschenk. Ohne Royadesara kann sie sich uns nicht »offenbaren.«

Die versprochene Offenbarung beginnt direkt mit dem ersten Satz und bezieht sich auf die weder magische noch irdische Einstellung der fiktiven Freundin der Ich-Erzählerin: »Maria sagt, die Welt sei ein gigantisches Irrenhaus.« Shirin Kumm hebt in diesem Irrenhaus die Leidensgeschichte ihrer Protagonistin hervor und erzählt gekonnt von ihren seit geraumer Zeit parallel laufenden Affären mit zwei Männern aus zwei unterschiedlichen Kulturen. Ihr bewährter Stoff scheint aus einer Frauenzeitschrift zu stammen. Der kleine Unterschied liegt aber darin, dass Kumms Hauptfigur diese Affären in ihrem Royadesara als Liebe kreiert und deren Unerreichbarkeit beklagt. In diesem Sinne ist Royadesara ein phantasiertes Verlustverzeichnis, das nach vermutlich realen Geschehnissen zusammengestellt wurde. Vor allem, weil das Erlebte von einer Figur erzählt wird, die stets von Royadesara überfallen wird. »Sie nimmt mich mit. Ich weiß nicht, was sie mit mir vorhat. Ich bin machtlos. Ich bin ahnungslos.« Da sie an der Grenze zwischen Realität und Traum lebt und »das Leben träumt«, will sie sich mit der beschwerlichen und anstrengenden Seite des Daseins nicht auseinander setzen. »Ich will mit euren Lebensplänen und Konzepten und Anweisungen nichts zu tun haben, ich will von euren Häusern und Einrichtungen und Versicherungen nichts wissen.« So ist Royadesara der Traum einer innig gewünschten Verweigerung. Bekanntlich gibt es auch ein Recht, das Unangenehme zu verdrängen.

Trotz ihrer Traumsucht arrangiert die Hauptfigur, eine erfolglose Drehbuchautorin, ihre Figuren mit flinker Hand. Ihre »Liebhaber« etwa, Edmund Glendorf, ein deutscher Theaterregisseur, und Nader Dana, sein persischer Geigenspieler, der als Sammler-Assistent bei der internationalen Musikbörse tätig ist. Der eine ist fast so alt wie der Vater der Erzählerin, der andere fast so jung wie ihr Sohn, wenn sie einen hätte. Sie fühlt sich zum »Grinsen in Danas Augen« und vom »Leuchten in Glendorfs Augen« hingezogen und wünscht sich heimlich, irgendwann von Glendorf als Drehbuchautorin entdeckt zu werden. Dieser will aber »von ihrem Schreiben nichts wissen«. Der romantische Geigenspieler Dana ebenfalls nicht. Er flirtet mit ihr, weil er »die Singlefrau aus Germany erobern« will. Merkwürdigerweise spiegeln sich die Charakterbruchstücke dieser Figuren nur in ihrer Beziehung zur Hauptfigur wider. Deshalb verlässt der Radius unserer Kenntnisse über sie nie die Reichweite ihrer Wahrnehmung. Das beengt sicherlich die Sicht des Lesers, der zuweilen mit überflüssigen Erklärungen überschüttet wird. So etwa mit der Lebensgeschichte der Deutschlehrerin von Dana, die so ausführlich geschildert wird, dass man selbst ihre Vorfahren kennen lernt. Es gibt aber bekanntlich auch ein Recht bestimmte Stories selektiv zu erzählen.

Dazu gehört ebenfalls die Geschichte der fiktiven Freundin Maria, die beneidenswert kluge und vernünftige Statements äußert und ihrerseits die eingedeutschte Seite der traumsüchtigen Perserin symbolisiert. Sie verfügt über eine gewaltige materielle Weisheit, die nicht einmal von der Hauptfigur wahrgenommen wird. Obwohl sie im Roman nur in Form der indirekten Rede präsent ist, ist sie die einzige Figur, die mit beiden Füßen im Leben steht und mit klarer Stimme aus dem Abendland spricht. Das bildet zu der verträumten und royadesarierten Stimme der Hauptfigur aus dem Morgenland keinen Widerspruch. Im Gegenteil: es wirkt sich wunderbar harmonisch auf die Textmelodie aus, die entlang einer integrierten Multikulturalität frei fließt. So wie Maria einen Teil der Hauptfigur verkörpert, trägt diese auch Elemente von Marias Kultur in sich. Mit ihr und Dana schlendert sie etwa über den Teheraner Basar, isst saftige Datteln, schenkt dem Regisseur Feigenmarmelade. Mit diesem besucht sie später auch die Straße von Beckett in Paris und trinkt Anis-Likör und Pastis. Das alles passiert ohnehin, wenn Einsamkeit und Leere zwischen den Zeilen vagabundieren.

Am Ende passt alles ganz gut zusammen. Das omnipräsente Verlorenheitsgefühl und der mäßige Alltag aus und in verschiedenen Kulturen. Shirin Kumm ist es gelungen, diese distanziert und royadesariert zu inszenieren. Manchmal greift sie kommentierend und belehrend ein, besonders dann, wenn sie als Vertreterin ihrer Generation sagt, dass Iraner die deutschen Produkte immer bewunderten - was stimmt - aber außer Hermann Hesse keinen anderen deutschen Schriftsteller kannten - was nicht stimmt. Was immer sie schreibt, ihr Text ist unkonventionell, denn sie lässt ihre kulturell bedingten Assoziation in ihre Sprache fließen und übersetzt zuweilen die »persischen« Bilder ins Deutsche - der Lärm des Wassers, betrunken vom Berg. Mit dem Argument Marias, Royadesara sei eine unfertige Geschichte, brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Denn bekanntlich gibt es auch ein Recht, unfertige Geschichten zu erzählen.

Shirin Kumm: Royadesara. Eine Verwirrung. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003, 128 S., 15.50 EUR

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