Nur wegen Hera nahm ich die Einladung meiner Mutter an. Es reizte mich nicht mehr, vor einem Baum aus Plastik zu sitzen, die goldenen und silbernen Kugeln und elektrischen Kerzen anzuglotzen. Dieses Ritual rief in mir die Erinnerungen an die Lügen meiner Mutter hervor, mit denen sie meine ganze Kindheit verdorben hatte. Meine Mutter Shamsi ist von diesem himmlichen Brauch so sehr fasziniert, dass sie jedes Jahr sogar früher als die Deutschen mit dessen Vorbereitung anfängt. So aufgeregt und ruhelos erlebte ich sie nie, nicht mal bei meinen Geburtstagsfeiern.
Dieses Jahr sprach sie Hera kurz vor den Herbstferien, als wir sie einmal besuchten, in der Küche an: "Kein Fest planen. Weihnachten zu mir kommen. Sabzi Polo (1) und Fisch essen, ja?" Hera hüpfte drei Mal vor Freude, als ob sie im Lotto gewonnen hätte. Das bedeutete nicht nur, dass unsere Beziehung mindestens bis Weihnachten anhalten würde, sondern auch, dass ich am Geburtstagsfest Christi das essen würde, was ich normalerweise beim iranischen Neujahrsfest verzehre. Ich bin grundsätzlich gegen jeglichen Küchen-Kulturaustausch. Shamsi hingegen ist in dieser Hinsicht Weltmeisterin. Auch Wahrheit und Lüge mischt sie ständig.
Unterwegs sagte ich ironisch zu Hera, es sei sehr nett von ihr gewesen, die Einladung meiner Mutter anzunehmen, ohne mich gefragt zu haben. Gelassen antwortete sie: "Ich hab nur für mich gesprochen. Du hättest auch deine Meinung sagen können." Nein! Meine Meinung wollte ich nicht äußern. Denn dann hätte meine Mutter sofort angefangen, in ihren nutzlosen Erinnerungen zu wühlen, um mich zu überreden, doch mitzufeiern wie in jenen "wunderschönen Nächten damals", in denen wir das Christfest in einem abgelegenen Dorf im Norden Deutschlands gefeiert haben. Das letzte Bild, das meine Erinnerung an jene Nächte prägt, ist das Bild meines Vaters, wie er meiner Mutter das Kopftuch ganz fest um ihren Hals bindet und brüllt: "Wenn du noch einmal deinen Fuß in die Kirche setzt, erwürge ich dich. Wir haben unsere Religion und unsere Organisation! (2) Bei diesen Christen, die nicht mal ihren Arsch waschen (3), brauchen wir um nichts zu betteln." Dann versetzte er dem Plastikchristbaum einen Tritt und verließ das Haus. Shamsi konnte meinem fragenden Blick nicht entwischen. Sie rieb sich den Hals sanft und sagte: "Es ist nicht so schlimm, Liebes! Baba wollte nur probieren, ob mir die Farbe des Kopftuches steht! Das hat er mir geschenkt!"
Meine Mutter log wie immer. Das Kopftuch hatte sie selbst gekauft, und zwar auf dem Kirchenflohmarkt. Ich war selbst dabei. Allerdings musterte ich nur die ganze Zeit die Verkäuferin. Sie sah so alt aus wie der liebe Gott. Ihre watteartigen weißen Haare rahmten ihr faltiges Gesicht. Sobald sie mich erblickte, schnitt sie ein großes Stück Kuchen und drückte es mir lächelnd in die Hand. Frau Webbinger - so hieß sie - weigerte sich vehement, dafür Geld zu nehmen. Vor ihr gab mir Shamsi die Münzen: "Hier, dein Taschengeld vom letzten Monat!"
Nun saßen wir vor einem großen Tannenbaum, nachdem wir Shamsis Sabzi polo gegessen hatten und beobachteten sie bei ihrer Zauberkunst. Statt diese qualvolle Veranstaltung zu Ende zu bringen, mischte sie einige getrocknete Blumen und seltsame Kräuter miteinander, die sie von ihrem Teeladen mitgebracht hatte, um eine kräftige Arzneimischung gegen Heras Heuschnupfen zu zaubern. Ich hatte keine Lust auf ihren Hokuspokus und wartete bloß auf das Geschenk, das sie angeblich nur meinetwegen besorgt habe und das "nur für mich" bestimmt sei. Dies war höchstwahrscheinlich eine der Lügen meiner Mutter. Die Geschenke, die der Weihnachtsmann "nur für mich und nur meinetwegen" in meiner Kindheit vorbeibrachte, waren schlicht und einfach alte, verblasste und schäbige Spielzeuge, die meine Mutter durch "Betteln" von der Kirche erhalten hatte. Das sagte ich ihr, als ich in der zweiten Klasse erfuhr, dass der Weihnachtsmann selbst die größte Lüge war, die alle Erwachsenen der Welt aus der Luft griffen. Schamlos bestätigte Shamsi meine Feststellung: "Du hast Recht, Liebes! Es ist aber eine süße Lüge." Mein Vater war jedoch der Ansicht, dass ein echter Muslim nie lügen würde. Die Unwahrheit trübe die Seele: "Ohne eine klare Seele taugt ein Mensch nicht mal, um in der Hölle verbrannt zu werden!"
Mein "exklusives Geschenk" unter dem Christbaum sah nicht so wertvoll aus: es war viereckig, dünn und schien leicht zu sein. Wahrscheinlich war es eine von unzähligen CDs, auf die Shamsi "ihr altes Wissen" über "den Streik der Psyche" und Wunderwirkungen der Heilpflanze Johanniskraut als "Sonne und Licht für die Seele" gebrannt hatte. Meine Mutter glaubt, dass meine Psyche unter den Symptomen leidet, mit denen Frauen in den Wechseljahren körperlich zu ringen haben! Seitdem Shamsi mit ihrem gnädigen Freund Volker - ich kann ihn einfach nicht leiden - einen Teeladen eröffnet hat, beschäftigt sie sich intensiv mit den alten persischen Schriften über die "Wunder der Pflanzen". Je nach Zeitgeist, übersetzt sie einen Teil dieses "alten Wissens", stellt eine CD her und schenkt diese ihren Kunden als Werbung. Ihr letztes "Werk" mit dem Titel Gegen Kopfschuppen mit Kamille! wurde von Hera - mit ihrem griechischen Akzent - gesprochen. Meine Mutter bereut "ihren Kurswechsel" nicht. Früher las sie nämlich Bücher wie Gegen Diktatoren mit Waffen! Nun versinkt sie in Volkers Armen - obwohl sie nicht verheiratet sind! - und eignet sich Ratschläge über die Stärkung des menschlichen Abwehrsystems an. Zu Hera sagte ich: "Du hast die Einladung angenommen, weil du auf unsere Abmachung pfeifen willst, ja?" "Nein, Omid (4). Wenn das eine Jahr um ist, geht jeder seinen eigenen Weg. Shamsi bleibt aber weiter meine Freundin!"
Alle Mädchen, die in jenem verloren gegangenen Dorf lebten, wurden Shamsis "Freundinnen"! Jedes Mal, wenn wir über die Schwelle der Kirche traten, schubste sie mich leicht in die Mitte und forderte mich auf: "Los, mein Sohn! Finde einen netten Freund für dich!" Dann bewachte sie an ihrem Teestand den Messing-Samowar und das Teeset. Bei jeder Gelegenheit trommelte sie die Mädchen um sich zusammen und bediente sie mit persischen Süßigkeiten. Der Anblick meiner Mutter mit ihrem schwarzen Kopftuch, gehüllt in den milchigen Dunst des Samowars, vor dem gekreuzigten Christus und umzingelt von einem Dutzend blauäugiger und blonder Mädchen, wirkte wirklich irritierend! Mein Vater litt massiv darunter. Denn er drehte immer durch, wenn er seinen Stolz und seinen Glauben bedroht fühlte. Er war wie die neue Boxster-Generation bei Porsche, strahlte Kraft und Souveränität aus, pulsierte schon im Stand. So befahl er Shamsi, ihre Probleme der Organisation anzuvertrauen und nicht einer Gruppe ungläubiger Fremder. Sie intervenierte: "Fremde oder Nichtfremde; sie helfen uns in diesem gottverlassenen Dorf. Wer hat uns unter die Arme gegriffen, als Omid vor Fieber Krämpfe bekam? Die Organisation? Nein! Frau Webbinger! Sie glaubt übrigens an denselben Gott, an den auch wir glauben."
Ich wünschte mir ein SPH-2300 Handy statt einer CD über den Seelenstreik. Hätte das Handy eine Kamera mit 3,2 Megapixel, wäre es genial. Meinen Wunsch hatte ich auch Hera anvertraut. So könnte ich jede Sekunde unseres Abschiedes verewigen. Es fällt mir schwer, mich von Hera zu trennen. Ich bin aber der Gründer des virtuellen Clubs "Leichter Bügel", dessen Grundsatz ich auch einhalten muss: Sollten Mitglieder über den Club ihre/n Partner/ Partnerin kennen gelernt haben, darf ihre Beziehung nicht länger als ein Jahr anhalten. Denn es ist empirisch bewiesen, dass Frauen spätestens nach einem Jahr ihre Maske abnehmen und mit List und Tücke anfangen! Als mein Vater es einmal Shamsi ins Gesicht sagte, protestierte sie nicht. Mittlerweile ging sie ohne Kopftuch in die Kirche. Mein Vater wollte allerdings, dass sie ohne mich mit ihm nach Irak zieht, um mit Saddams Unterstützung gegen Khomeini zu kämpfen: "Ich trenne mich nie von meinem Kind, auch nicht wegen meiner Ideale! Gehe du alleine!" (5)
Mein Vater brüllte: "Mein Kind, mein Kind! Das ist nur eine Ausrede! Omid ist hier gut versorgt. Du willst bloß hier bleiben, weil du frei sein willst. Heute trägst du kein Kopftuch mehr, morgen willst du deinen Körper nackt zur Schau stellen!" Zu Hera sagte ich: "Du kannst nicht einfach mit mir Schluss machen, mit Shamsi aber weiter befreundet sein!" "Warum nicht? Ich verliere dich und gewinne eine gute Freundin."
Es ist mir ein Rätsel, warum alle denken, ich sei wertlos und ersetzbar. Mein Vater verließ mich und zog nach Irak, um Ruhm zu gewinnen. Sein einziger Verdienst war nicht der Sieg, sondern der Tod. Ob mittlerweile seine Körperfetzen eingesammelt und begraben worden sind, weiß ich immer noch nicht. Hera wartete gespannt und vergeblich auf meine Antwort. Ich würde gerne unsere Beziehung weiter pflegen, wenn es diese Club-Mitgliedschaftsbedingungen nicht gäbe! Hera ist, wie der CLS bei Mercedes-Benz, entzückend. Man kann auf allen einsamen Highways der Welt damit fahren und sich keine Minute unsicher fühlen. Mit ihr unterhielt sich Shamsi die ganze Zeit vor dem blinkenden Christbaum und sprach mich nur einmal an; ob ich mir über meine Zukunft Gedanken gemacht habe! Meine Gegenfrage als Antwort: "Welcher Arbeitgeber wartet auf mich, wenn es viereinhalb Millionen Arbeitslose gibt?" Viereinhalb Millionen Arbeitslose hin und her, meine Zukunft wurde definitiv an dem Tag gestaltet, an dem mein Vater zum endgültigen Abschied bei uns klingelte. Wir wohnten noch in jenem einsamen Dorf, dessen niedriger Himmel zehn Monate im Jahr keine Sonne erblickte. Er dröhnte wie der Motor von Porsche beim Start: "Sag Shamsi, sie soll dich nach unten bringen, falls sie nicht unter einem fremden Mann liegt!" Ich wünschte mir damals, dass er nie gekommen wäre. Shamsi müsste wissen, dass meine Zukunft ohne ihre trübe Seele und die Körperfetzen meines Vaters unvorstellbar ist. Oder glaubt sie etwa, dass sie wie ein Octavia Kombi von Skoda aussehen soll?!
Mein Geschenk bekam ich, nachdem Shamsi mit der Auflistung der Heilwirkungen der Ginseng-Wurzeln fertig war. Hera spielte dabei die an einem elektronischen Keyboard vorprogrammierte Melodie des Liedes Heilige Nacht. Das Lied summte sie unterwegs weiter, nach dem ich mein Geschenk ungeöffnet in die Tasche steckte und losging. Es war aber keine CD. Es war ein Foto von Shamsi; nackt am Strand des Mittelmeers in Spanien! Äußerst verärgert wollte ich das obszöne Bild zerreißen. Hera kam mir zuvor, schnappte es und musterte es eine lange Zeit. Sie sähe, sagte sie lyrisch, jenseits von Shamsis faltiger Haut und ihren hängenden Brüsten "eine erschöpfte Seele, die von den Wunden und vom Leid des Lebens, blaue Flecken hätte." Ich versuchte wieder das Foto zu ergreifen und zu zerreißen. Plötzlich entdeckte Hera einige Zeilen auf der Rückseite des Bildes: "Herzlichen glückwunsch zum geburtstag, mein Omid! Heute wirst du 18, erwachsen genug um zu erfahren, dass du eigentlich am 24. Dezember 1986 das licht der welt erblickt hast. Beim asylantrag hat dein vater falsche angaben gemacht, damit du früher in die schule gehen konntest. Als ich schwanger war, machte ich viele nacktaufnahmen mit dir in meinem bauch, weil ich bilder von dir, auch vor deiner geburt haben wollte. Die fotos habe ich aber zerrissen. Ich hatte angst, dass sie in die hände von passdaran (6) fallen würden. Mein leben lang bedauerte ich es aber. Hier ist ein foto vom mir. Vielleicht willst du später auch wissen, wie ich aussah, nach dem ich nicht mehr lebe. Küsse und drücke dich. Shamsi".
Freiwillig ließ ich das Foto unversehrt in Heras Hand. Sechs Monate früher oder später "das Licht der Welt" erblickt zu haben, änderte an meiner Situation gar nichts. Vielleicht war es auch eine von Shamsis unendlichen Lügen. Damit wollte sie mich unter Druck setzen, um am ersten Tag meines 18. Lebensjahres mit dem Bau meiner Zukunft anzufangen, die ihrer Meinung nach bestimmt wie ein Citroen C4, mit zwei Türen, einem Hauch von Avantgarde, viel Platz und einem steilen Heck aussehen sollte!
Grantig murmelte ich: "Scheiß auf alle Citroen C4, Scheiß auf alle Fotos und alle Revolutionen der Welt" und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Plötzlich rief Hera mir nach: "Hey, guck Mal, ein Gutschein für ein Handy SPH-2300 mit einer Kamera mit 3,2 Megapixel. Sofort abholbar." Wenn alle meine Wünsche nur so schnell wie das Handy in Erfüllung gingen, dachte ich! Pfeifend begleitete ich dann Hera beim Summen: "Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft ..."!
Fahimeh Farsaie, geboren 1952 in Teheran, lebt als freie Schriftstellerin in Köln. Von ihr erschienen die Romane und Erzählungen: Die gläserne Heimat (1989), Vergiftete Zeit (1991), Flucht und andere Erzählungen (1994), Hüte dich vor den Männern, mein Sohn (1994).
(1) Reis mit verschiedenen Kräutern.
(2) Gemeint ist die islamisch-sozialistisch-orientierte Organisation der Volksmudjahedin.
(3) Nach islamischen Lehren muss man sich nach der Verrichtung der Notdurft mit Wasser waschen.
(4) Der Name des Jungen bedeutet Hoffnung.
(5) Ende der achtziger Jahre hatte die Volksmudjahedin ihren Mitgliedern in Europa befohlen, in den Iran zu ziehen und militärisch gegen das Khomeini-Regime zu kämpfen. Die Kinder sollten in den jeweiligen Ländern bleiben und in Heimen untergebracht werden.
(6) Revolutionswächter
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