Weil sie wissen, dass sie spielen

WENN VORURTEILE REALITÄT WERDEN Anja Weiß untersucht, wie sich Rassismus symbolisch als Gewalt reproduziert

Fast jeder Nichtdeutsche kennt die Haltung der Deutschen, die es gut meinen. Meistens wollen sie sich an die Nächstenliebe halten. Die "MigrantInnen" werden nicht als gleichberechtiges Gegenüber, sondern als Hilfsbedürftige definiert. Deshalb kämpfen diese, es gut meinenden Deutschen zwar für die Anerkennung der Rechte von MigrantInnen, aber nicht weil sie die demokratischen Verhältnisse in der deutschen Gesellschaft zu fördern versuchen, sondern weil sie den "Opfern" helfen wollen. Mit dieser Gruppe, die aktiv gegen Rassismus kämpft und sich für die Rechte von rassistisch Verfolgten einsetzt, setzt sich Anja Weiß, Soziologin und Psychologin an der Bundeswehrhochschule in München in ihrem Buch: Rassismus wider Willen auseinander.

Das Spezifikum dieses Buches liegt in seinem Schwerpunkt. Die meisten empirischen Untersuchungen zum Rassismus beschäftigen sich mit der Unterscheidung zwischen rassistischen und nicht-rassistischen sozialen Phänomenen. Damit untersuchen sie, wie sich rassistische soziale Ungleichheit von anderen Formen der sozialen Ungleichheit unterscheidet. Anja Weiß fokussiert ihre Untersuchung auf den Moment, in dem Rassismus wider Willen reproduziert wird. Wenn sich auch bei antirassistisch Engagierten aus der gebildeten Mittelschicht rassistische Effekte beobachten lassen, behauptet die Autorin, spricht das dafür, dass Rassismus unter anderem als symbolische Gewalt reproduziert wird. Damit steht nicht mehr das Individuum im Mittelpunkt der Forschung, sondern die Gesellschaftsnormen und die unauffälligen Reproduktionsformen des Rassismus. Anja Weiß sucht nicht nach einer Antwort auf die Frage, welche Inhalte rassistisch sind und welche nicht. Statt dessen untersucht sie - angelehnt an Pierre Bourdieu - "symbolische Kämpfe gegen Rassismus, als Praktiken, in denen rassistische Inhalte, aber auch ihr selbstverständlicher Geltungsanspruch diskursiv und handlungspraktisch angegriffen werden."

Als Forschungsmethode wählt Anja Weiß eine aufwändige Versuchsanordnung nach der Frankfurter Schule aus, bei der die Diskussion im Pollockschen Sinne durch einen "Grundreiz" eingeleitet wird. Kritisch äußert sie sich zu den gängigen Methoden wie Interviews oder Fragebögen, weil die Fragebogenstudien die Menschen zu einer individuellen Meinung zwingen, die sie unmöglich zu allen Fragen haben können. Der Vorteil der Gruppendiskussionsmethode, bei der sich die Gruppe in einer Interaktion beteiligt, liegt darin, dass sich die sozialen Gruppen eine Meinung durch Prozesse bilden. "Bei Gruppendiskussion handelt es sich nicht um ›nur individuelle‹ Meinungen, sondern um eine situations- und milieuspezifische Aktualisierung der öffentlichen Meinung."

Um das ganze Potential dieser Methode zu nutzen, versucht die Autorin mit den Rollenspielen einen empirischen Zugang zu immer wieder reproduzierten Handlungspraktiken des Rassismus zu finden. Die Rollenspiele haben den Vorteil, dass die Gruppen Themen einbringen können, die schlecht in eine Gruppendiskussion gepasst hätten oder die sie verbal nicht hätten ausführen können. In einer Gruppendiskussion können die Menschen rassistische Verhaltensmuster nur in begrenztem Maße sprachlich äußern. Aber wenn sie eine Situation mit der ihr immanenten Routine vorführen, werden handlungspraktische Probleme in der Auseinandersetzung mit Rassismus diskutierbar. "Dennoch bleibt die Distanz zur Realität erhalten", schreibt Weiß, "weil die RollenspielerInnen wissen, dass sie ›spielen‹. Das heißt, sie handeln nicht nur im Geiste, sondern werden selbst auch aktiv."

Nach zwei Kriterien erfolgte die Auswahl der Untersuchungsgruppen. Es gab Gruppen, die eher antirassistisch engagiert waren. Andere bestanden überwiegend aus rassistisch dominanten Mitgliedern. Eine erhebliche Bedeutung hatten die Rollenspielthemen, mit denen sich die ausgewählten Gruppen beschäftigt haben. Drei zur humanistischen Strömung rechnende Gruppen (die Trainergruppe, die stadtpolitische Gruppe und die FlüchtlingssozialarbeiterInnen) setzten sich mit Rollenspielthemen wie "Strukturelle Bedeutung der Trainings", "Vorurteile im Freundeskreis", "Vorurteile auf dem Amt" auseinander. Eine feministische Kontrastgruppe, die aus Studentinnen mit einem international ausgerichteten Studienfach bestand, übernahmen die Rollen von zwei Afrikanern, zwei beschnittenen Afrikanerinnen, zwei Kolonialisten, zwei konservativen Deutschen und einer Ethnologin und diskutierten im Anschluss an eine Tagung über die "weibliche Beschneidung". Noch zwei andere, eher feministische und linksradikal ausgerichtete Gruppen haben die "Stücke" mit den Titeln "öffentliche Podiumsdiskussionen über Rassismus und Antisemitismus" und "neue MigrantInnen in der Gruppe" dargestellt.

In der Realität ist letztere Gruppe regelmäßig mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Effekte diskriminierender Strukturen aufzuheben, wenn sie rassistische Angriffe "veröffentlicht" und zum Teil auch um Unterstützung gegenüber den AngreiferInnen bietet. Nimmt man Weiß beim Wort, so können sich Praktiken herausbilden, die an die rassistische Strukturierung ihres Handlungsfeldes angepasst sind und vorhandene Hierarchien reproduzieren. Denn die rassismusrelevanten hierarchischen Handlungspraktiken sind meist Ergebnis von Feldern, in denen die "Vorurteile" Realität geworden sind. "Das heißt, sie reflektieren die Folgen rassistischer Institutionen und ›Realitäten‹. Wenn die antirassistischen Gruppen MigrantInnen als hilfsbedürftig ansehen, nehmen sie einerseits wahr, dass die Dominierten zum Problem gemacht werden und versuchen, ihre objektive Benachteiligung auszugleichen. Andererseits reproduzieren sie das Problem, indem sie die Mehrheit der MigrantInnen aus Gewohnheit als problembeladen darstellen und behandeln."

Anja Weiß will herausgefunden haben, dass rassistisch Dominante ökonomisch, politisch, juristisch und sozial von Rassismus profitieren. Ihre Kritik geht aber nicht direkt an die Adresse der gut meinenden Deutschen, die mit gerechten Anliegen sympathisieren und sich in Kämpfen gegen Rassismus engagieren. Sie kritisiert den strukturellen und institutionellen Rassismus, dessen Regeln manchmal die Bemühungen der Gutmeinenden sogar scheitern lassen.

Rassismus wider Willen ist kein einfaches Buch, und einfach geschrieben ist es auch nicht. Weiß´ Thesen stützen sich auf zahlreiche Theorien von namhaften Wissenschaftlern und Philosophen, die sie ausführlich zitiert, doch meistens kritisch analysiert und ihrem eigenen theoretischen Ansatz folgt. Die Subjektivität ihrer Wahrnehmung, die stark von den Sinneseindrücken der Gruppenteilnehmer geprägt ist, ist dominant, lässt aber genug Raum für alternative Interpretationen. Ein wichtiges Buch, besonders für diejenigen, die unerforschte Aspekte des Rassismus in der deutschen Literatur entdecken wollen.

Anja Weiß:Rassismus wider Willen. Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 377 S., 32,72 €

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