Werft die Fremden raus!

Parallelleben In Altaf Tyrewalas Roman "Kein Gott in Sicht" spielt Bombay die Hauptrolle

Indien soll die Supermacht des 21. Jahrhunderts werden und die zweitgrößte Stadt dieses Landes Bombay (seit 1995 heisst die Stadt Mumbai) fungiert als Projektionsfläche für diese Vision. Dass Bombay immer wieder mit unterschiedlichen Ehrentitel beschmückt wurde, ist nicht neu: Es war eine Weile das Singapur Indiens und nun sollte es das Hongkong des dritten Jahrtausends sein. "Forget Shanghai", betonte Premierminister Manmohan Singh im vergangenen Jahr, der mit der Firma McKinsey die Stadt bis zum Jahre 2013 in die modernste Hyperstadt des Planeten zu verwandeln beabsichtigt. Seit vier Jahren trägt diese Hafenstadt also den Beinamen eines neuen Shanghai.

Eine Stadt, viele Bezeichnungen, viele Gesichter. Wer diese kosmopolitische Metropole, die bis zur britischen Kolonialherrschaft über Indien keine eigene urbane Geschichte hatte, wirklich kennen lernen möchte, möge den Debütroman des 30-jährigen indischen Schriftstellers Altaf Tyrewala lesen. Sein Titel: Kein Gott in Sicht ist sinnfällig. Bei Tyrewala ist die Metropole dreckig, übervölkert und bitterarm. Obwohl Bombay mehr Millionäre als Manhattan beschützt, beherbergt sie auch zwölf Millionen Slumbewohner, die meist statt Toiletten nur versteckte Nischen haben.

Einer von ihnen heißt Amjahd und arbeitet in "Medina Chicken Mart" als Schlachter. Er schneidet Hühnern die Hälse durch und rezitiert dabei Koranverse. Somit macht er das Huhn nach islamischen Sitten "rein". Amjahd hat auch zwei Männer getötet, als er seine Notdurft in einer versteckten Nische verrichten wollte. Da sah er einen "der das Mädchen geküsst hat" und einen, "der ihren bloßen Hinten geknetet hat." Nachdenken wäre eine Sünde gewesen. "Da war der Ziegelstein in meiner Hand. Da war der Ziegelstein, der mit zwei gezielten Schlägen niedersauste. Da waren die beiden Männer, jetzt tot. Da war das Mädchen, das im Gras lag. Acht Jahre alt, völlig verwirrt und sprachlos. Ich hob die Kleine auf. Sie zitterte wie ein Hühnchen."

Spätestens am Ende der Lektüre von Amjahds Geschichte glaubt man, den Protagonisten, das Thema (Mord) und die Dramaturgie des Buches (eine Sammlung von Monologen) herausgefunden zu haben. Doch die Annahme täuscht, wie man später feststellt. Amjahd ist zwar ein "fairer Mörder", dennoch nicht die Hauptfigur. Auch der "pflichtbewusste Mörder", ein Abtreibungsarzt, der versucht, sich für seinen mörderischen Beruf zu rechtfertigen, ist nicht die zentrale Gestalt in diesem Buch. Er erzählt nur von seiner Arbeit in seiner schmierigen Praxis und von seinem Ekel vor den Menschen. "Nein. Fragen Sie mich nicht nach den Föten. Nach der dritten Abtreibung habe ich sie nicht mehr bewusst wahrgenommen. Jetzt sehe ich sie nur noch als blutige Klumpen. Unterleibsgeschwülste, die das Leben anständiger, gottesfürchtiger Menschen zu zerstören drohen."

Irgendwann im Frühjahr 2000 fielen dem einstigen Angestellten Tyrewala die Werbeflyer eines dieser Abtreibungsärzte, die voller Rechtschreibfehler waren, in der Stadtbahn Bombays auf dem Weg zur Arbeit auf. Inspiriert von dieser Killeranzeige begann er an seinen freien Abenden einen Monolog zu schreiben und dem Arzt eine Stimme zu geben. Irgendwann tauchte aber weiter in Tyrewalas Kopf eine zweite Stimme auf, die Stimme der jungen Frau, Minaz, die ihr Baby von dem Arzt abtreiben lässt. Minaz ist freilich auch nicht die Hauptfigur. Der Berufskiller, der sich nach der "Ausführung seines Auftrages auf dem Klo" des Apartments 1403 in einem "muslimischen Slum auf dem Dach eines muslimischen Wolkenkratzers und in einem muslimischen Bezirk" aufhält, ist aber auch nicht die Hauptperson in diesem Roman. Er hockt nur seit einer Stunde da und drückt: "Nach einem erfolgreich ausgeführten Auftrag muss ich mindestens eine Woche lang drücken, bis meine Innereien bereit sind, ihren Abfall rauszurücken. Bis dahin verhärten sich die Drüsen seitlich an meinem Hals, und ich fange an, nach Fäkalien zu stinken."

Einige Seiten weiter begegnet man dann dem Polizeichef Pasha, dem staatlich autorisierten Mörder, der mit seinem furchtlosen Team "15 Dschihad-Kämpfer in einem Park" eingekreist und erschossen hat. Er behauptet: "Dieser Haufen saß hier im Kreis und plante ein Attentat auf den Premierminister"! Selbstverständlich wird nicht weiter ermittelt, weder seitens der Polizei - Menschenleben in Bombay sind in dieser Stadt nicht so viel wert - noch seitens des Autors. Er beschäftigt sich bereits mit dem nächsten potenziellen Mörder, Babua, der gerade siebzehn geworden ist, alt genug, um seine Aufgaben als Mann zu erfüllen: seinen Großvater auf den Schultern zu tragen wenn er tot ist, sowie als Grundbesitzersohn in den Genuss der traditionellen Rechte zu kommen und "die Töchter von Arbeitern zu entjungfern". Da aber Babua dabei versagt, entscheidet er, seine Männlichkeit anderweitig zu beweisen, etwa als "heldenhafter Mörder". Dabei hilft ihm der Vorsteher des Klosters der Hindus, in dem er eine feurige Rede gegen "Fremde" hält: "Wer ist der Mann, der es tut? Werft die Fremden aus eurem Haus, aus eurem Dorf, aus eurem Land. Hindustan den Hindus! Hindustan den Hindus! Verstanden, ihr dämlichen Eunuchen? Nicht für die Fremden, unser Hindustan! Wer? Wer wird die Geschichte neu schreiben, wer wird die Vergangenheit rächen und die Fremden vertreiben?" Und prompt findet Babua in der Menschenmenge einen Sündenbock, um ihn umzubringen und damit seine Männlichkeit und seine Liebe zu seinem "Vaterland" aufzuzeigen. Tyrewala schildert meisterhaft, wie die ethnischen Konflikte in dieser Halbinsel, auf deren 437 Quadratkilometer sich 18 Millionen Menschen aus unterschiedlicher Herkunft und Religion drängen, geschürt und angezündet werden.

Vier Jahre lang schrieb Tyrewala über diese Menschen kleine Monologe. Sie kommen aus jeder Ecke Bombays, sind arm und reich, meist Muslime, sie leben nebeneinander, gehen auf der Strasse aneinander vorbei und kommen durch ihr Parallelleben irgendwann miteinander in Berührung. Sie treten in scheinbar zusammenhanglosen Kontexten im Buch auf, nehmen widerwillig die unverwechselbare Rolle der Hauptfigur an, erzählen ihre Geschichten und verschwinden unverhofft, so überraschend, wie sie aufgetaucht sind, wieder vom Bildschirm. Was übrig bleibt, ist eine unübersehbare Spur ihres Daseins, das mit dem der anderen verwoben wird und das das Leben und das Gesicht Bombays ausmalt. Erst dann stellt man fest, wer tatsächlich die zentrale Gestalt dieses wunderbar irreführend aufgebauten Romans ist: Die Stadt Bombay und ihre mobile Bevölkerung, die ihren Stolz aus ihrer uralten Geschichte und 5000jährigen Kultur bezieht. Kein Gott in Sicht ist ein feines Geflecht von Beobachtungen seelischer Vorgänge und innerer Bilder, die den Geist und auch die Landschaft dieser Stadt prägen. Nicht Bombay, sondern New York, in der Tyrewala von 1995 bis 1999 lebte, hat sein Interesse an Büchern geweckt. "In NYC machte mich Heimweh zu einem Leser." Dennoch wollte er immer etwas Besseres als die Rushdies und Roys schreiben. Kein Gott in Sicht ist der brillante Beweis dafür, dass es ihm zweifelsohne gelungen ist.

Altaf Tyrewala: Kein Gott in Sicht. Roman. Aus dem Englischen von Karin Rausch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 184 S., EUR


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