Höchststrafe lebenslänglich

Kambodscha Noch in diesem Jahr sollen vor einem Internationalen Gerichtshof die ersten Prozesse gegen ehemalige Führer der "Roten Khmer" beginnen

Träge grasen die Ochsen im Schatten der Pagode am Mekong. Ein leichter Wind weht vom Strom her, der in Höhe von Choeung Ek die kambodschanische Hauptstadt längst hinter sich gelassen hat. An den Ufern weiden Wasserbüffel und Buckelrinder, Vögel zwitschern, doch ist der Ort alles andere als eine pastorale Idylle. In der Pagode von Choeung Ek werden die Gebeine von mehr als 8.900 Kambodschanern aufbewahrt, die zwischen 1975 und 1978 starben, als es zu einem der größten Massenmorde der Weltgeschichte kam. Etwa 1,7 Millionen Menschen wurden in jener Zeit zu Opfern der Gewaltherrschaft, mit der die Khmer Rouge das Land in Schach hielten. Vermutlich mehr als 10.000 starben auf den Killing Fields von Choeung Ek, 15 Kilometer westlich von Phnom Penh.

Die meisten der Getöteten waren Häftlinge aus dem ehemaligen Lyzeum "Toul Sleng", das ab Ende 1975 als Gefangenenlager und Verhörzentrum die Bezeichnung "S 21" (Securité 21) trug. Neben unschuldigen Männern, Frauen und Kindern, die als "bourgeoises Unkraut" galten, wurden dort vorzugsweise Khmer-Rouge-Kader interniert, die zur Elite des Regimes gehörten, dann aber in Ungnade gefallen waren. Nach Wochen oder Monaten der Verhöre und Folterungen brachte man die Gefangenen, die diese Torturen überlebt hatten, hinaus nach Choeuk Ek, wo sie von ihren oft minderjährigen Bewachern mit Hacken, Spaten oder Äxten erschlagen und danach in Massengräbern verscharrt wurden. 86 dieser Schädelstätten wurden bereits 1980 geöffnet - ein Jahr, nachdem die vietnamesische Armee Pol Pot und seine Todesschwadronen vertrieben hatte. Man fand 8.985 Leichen, 452 davon ohne Kopf.

Die Khmer Rouge unter dem "Bruder Nr. 1" genannten Pol Pot wollten ein Land der entvölkerten Städte und monströsen Agrarkommunen - ihr makabres Utopia folgte den Dogmen des Sinokommunismus und Mao Zedongs Doktrin vom Kampf des "Weltdorfes gegen die Weltstadt". Besonders Khieu Samphan - "Bruder Nr. 3" und Präsident des "Demokratischen Kampuchea" - hatte mit seiner in den frühen sechziger Jahren an der Pariser Sorbonne vorgelegten Dissertation die Doktrin vom neuen Menschen, den es zu schaffen gelte, auf Kambodscha übertragen.

Nicht nur in der Pagode von Choeung Ek sind bis heute die Folgen zu besichtigen. Auf den Killing Fields von einst kann es während der Monsunzeit immer noch geschehen, dass Schädel oder Knochen hochspült werden. Oder Kleidungsfetzen, die ihre Besitzer überlebt haben. Die Vergangenheit ist in Kambodscha nicht zu begraben, im Gegenteil. Doch wer muss sühnen für das Unfassbare? Bisher wurde keiner der Killer von Choeung Ek angeklagt, geschweige denn einer ihrer Führer verurteilt.

Das Tribunal von 1979

Nun allerdings könnte es doch noch gelingen, die Gräuel des "Demokratischen Kampuchea" juristisch aufzuarbeiten - noch 2006 soll ein Internationaler Gerichtshof zusammentreten, um sich mit den "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu beschäftigen, wie es in seinen Statuten heißt. Seit die Nationalversammlung Kambodschas im Oktober 2004 einem "Sondertribunal" zugestimmt hat, ist zwar der Kompetenzstreit zwischen dem Königreich und den Vereinten Nationen noch nicht vollends beigelegt, aber ein Kompromiss ausgehandelt. Danach steht fest: Das Gericht tagt in Phnom Penh und urteilt nach nationalem Recht. In seinen beiden Kammern werden einheimische Richter und Staatsanwälte in der Mehrheit sein - assistiert von Juristen, die von der UNO entsandt werden. Entscheidungen des Tribunals müssen von mindestens einem "internationalen Richter" mitgetragen werden. Verhandelt werden allein Verbrechen der Khmer Rouge. Vor allem die USA wollten damit verhindern, dass ihre Verantwortung für deren Aufstieg nach der Militärintervention von 1970, die zum Auslöser eines Bürgerkrieges wurde, zur Sprache kommen könnte. Es sollen allein "die höchsten Führer" des Pol-Pot-Staates vor den Richtern stehen (derzeit geht man von etwa 60 einst ranghohen Khmer Rouge aus). Als Höchststrafe kann auf lebenslange Haft erkannt werden.

Ungeklärt bleibt die Finanzierung der auf drei Jahre angesetzten Verfahren. Ursprünglich war daran gedacht, die veranschlagten 56,3 Millionen Dollar zwischen der internationalen Gemeinschaft (43 Millionen) und Kambodscha (13,3 Millionen) aufzuteilen, doch gab inzwischen Premier Hun Sen zu verstehen, sein Land sei zu arm und könne bestenfalls anderthalb Millionen beisteuern. In der Tat gehört Kambodscha mit einem geschätzten jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 315 Dollar zur Gruppe der 19 ärmsten Staaten der Erde, denen der IWF gerade erst sämtliche Schulden erlassen hat. Die Geberländer selbst, allen voran Japan, das die Hälfte des internationalen Kostenanteils übernehmen will, haben die Mittel bislang lediglich zugesagt, jedoch noch keinen Cent überwiesen.

Trotz dieser Unwägbarkeiten herrscht Zuversicht in Phnom Penh. Michelle Lee, eine von der UNO entsandte Beraterin des Tribunals, ist optimistisch: "Es gibt kein Zurück mehr, wir sind hier, und wir werden hier bleiben." Die Vereinten Nationen haben bei einem Scheitern nicht nur einen Ruf zu verlieren, sie stehen auch moralisch gesehen in der Pflicht, über 25 Jahre nach dem Ende des Genozid-Regimes eine juristische Aufarbeitung nach Kräften zu fördern. Bis 1991 war eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten der Auffassung, der Sitz Kambodschas in der Generalversammlung gebühre weiter den Gesandten Pol Pots. Der neue kambodschanische Staat - er hieß ab 1979 zunächst "Volksrepublik Kampuchea" - gehöre boykottiert. Auch wenn er dem Morden ein Ende gesetzt habe, sei er doch nicht mehr als eine Kreatur Vietnams und verdanke seine Existenz einer Intervention.

In diesem Sinne wurde auch ein "Revolutionäres Volkstribunal", das im August 1979 im befreiten Phnom Penh stattfand und Pol Pot sowie dessen Vizepremier Ieng Sary ("Bruder Nr. 2" ) in Abwesenheit zum Tode verurteilte, im Westen als "Schauprozess" und "Propagandatheater" diskreditiert. Um Vietnam zu schaden, unterstützten die USA und China Pol Pot und seine Clique jahrelang mit Geld und Waffen, so dass bis in die neunziger Jahre hinein im Nordwesten Kambodschas ein veritabler Guerillakrieg gegen Phnom Penh geführt wurde - er endete erst, nachdem Pol Pot 1996 von seinem Stab entmachtet wurde und der Nachfolger Ta Mok ein Jahr später aufgeben musste.

Ein möglicher Kronzeuge

Auch der Chef des berüchtigten Lagers "Tuol Sleng" wartet in Phnom Penh auf die Anklageschrift des Tribunals. Der heute 63-jährige "Deuch" (eigentlich: Kiang Khek Iev) war ab 1976 direkt Pol Pots Stellvertreter Nuon Chea unterstellt, später Verteidigungsminister Son Sen sowie Armeechef Ta Mok zugeordnet. Er nahm regelmäßig an Sitzungen des Zentralkomitees der "Angkar" (übersetzt: "Die Organisation") teil, wie sich die Partei Pol Pots nannte, und hatte unmittelbaren Zugang zu Pol Pot selbst. Deuch, der als Einziger von den in Haft sitzenden Khmer-Rouge-Kadern Reue zeigt, wäre ein vorzüglicher Kronzeuge, könnte er doch beweisen, dass die gesamte Angkar-Führung - auch die heute noch lebenden Khieu Samphan und Ieng Sary - stets umfassend unterrichtet waren, was etwa in Toul Sleng geschah.

Der einstige Staatschef Khieu Samphan, wie Ieng Sary nach wie vor auf freiem Fuß, hat das immer vehement bestritten. Vor Jahren meinte er gönnerhaft, für ihn sei es bestenfalls vorstellbar, vor einer "Wahrheitskommission" auszusagen, sollte es die irgendwann geben. Ein solches Gremium nach dem Vorbild Südafrikas ist im Gespräch, soll aber nur untere Khmer-Rouge-Chargen vorladen.

So bleibt nicht nur umstritten, wen das Sondertribunal anklagen soll - an einem Gerichtshof überhaupt scheiden sich die Geister. Die Befürworter argumentieren, es müsse endlich Gerechtigkeit geben. Auch wenn die Sehnsucht nach innerem Frieden und Versöhnung verständlich sei, sie blieben eine Illusion, solange die Täter nicht abgeurteilt seien. Die Khmer Rouge für immer zu verschonen, würde die eine ohnehin weit verbreitete "Kultur der Straflosigkeit" endgültig zum Dogma erheben.

Die Gegner ächten das Tribunal als Geldverschwendung, auch Ex-König Sihanouk, der sich jahrzehntelang mit den Khmer Rouge arrangiert hatte. Man solle die 56 Millionen Dollar, insistiert er, eher dafür verwenden, die Armut zu bekämpfen und die Infrastruktur Kambodschas auszubauen.

Ham Samnang vom Cambodian Institute for Cooperation and Peace bedauert, dass die meisten Leute "in erster Linie an ihren Magen und weniger an Gerechtigkeit denken". Aber dürfe man deshalb die Millionen Opfer vergessen und zulassen, dass Kambodscha nicht nur ein Land der körperlich, sondern auch "seelisch Verstümmelten" bleibe, weil alles verdrängt werde? Wer in "Tuol Sleng", das heute ein Dokumentationszentrum ist, nur die Berge von Ketten und Eisenstangen sieht, mit denen die Gefangenen während der Verhöre an Bettgestelle gefesselt waren, oder die Massengräber und Totenköpfe von Choeung Ek, der kann dem nur zustimmen.


Kambodscha-Chronik

1975 bis 1979 - nach dem Sturz des Lon-Nol-Regimes und dem Abzug der US-Armee aus Indochina übernehmen die Khmer Rouge die Macht in Kambodscha, das 1976 in "Demokratisches Kampuchea" umbenannt wird. Der maoistischen Diktatur fallen 1,7 Millionen Menschen (ein Viertel der Bevölkerung) durch Massenexekutionen, Hunger und Krankheiten zum Opfer.

Januar 1979 - durch das militärische Eingreifen Vietnams wird Pol Pot gestürzt und die "Volksrepublik Kampuchea" gegründet, die international zunächst nicht anerkannt wird. Die Khmer Rouge beginnen mit einem Guerilla-Krieg gegen die neue Macht in Phnom Penh.

Januar 1985 - Hun Sen - bis dahin Außenminister - wird zum Regierungschef gewählt.

Oktober 1991 - unter UN-Vermittlung schließen alle kambodschanischen Konfliktparteien (einschließlich der Khmer Rouge) das "Pariser Friedensabkommen", das u. a. zum Rückzug der vietnamesischen Armee aus Kambodscha und zur Rückkehr von König Sihanouk führt.

Juni 1993 - die Khmer Rouge boykottieren von der UNO überwachte Wahlen, aus denen die Volkspartei (CPP) Hun Sens als Sieger hervorgeht. Mit der bald darauf verabschiedeten neuen Verfassung wird aus Kambodscha wieder eine konstitutionelle Monarchie.

März 1996 - die letzten bewaffneten Khmer-Rouge-Verbände lösen sich auf. Ieng Sary ("Bruder Nr. 2" im "Demokratischen Kampuchea") sagt sich von Pol Pot los.

April 1998 - Pol Pot stirbt 73-jährig in einem Camp der Khmer Rouge und als deren Gefangener.

August 1999 - Premier Hun Sen lehnt ein von der UNO angestrebtes internationales Tribunal gegen die Hauptverantwortlichen des in Kambodscha verübten Genozids ab. Stattdessen sollen sich führende Khmer Rouge vor einheimischen Richtern verantworten - seitdem dauert das Tauziehen um einen Gerichtshof an.

Juli 2003 - Sieg der Volkspartei von Hun Sen bei den Parlamentswahlen, erneut wird eine Koalitionsregierung mit der royalistischen FUNCINPEC des Sihanouk-Sohnes, Prinz Ranariddh, gebildet.

Oktober 2004 - König Norodom Sihanouk dankt aus gesundheitlichen Gründen ab. Durch den Thronrat wird Prinz Sihamoni (ein Sohn Sihanouks) zum neuen König ausgerufen.

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