Ich bin der Schatten

Romanauszug Nach Jahren in Deutschland erfüllt sich Hüseyin einen Traum und kauft sich eine Wohnung in der türkischen Heimat. Am Tag des Einzugs stirbt er. Seine Familie trifft sich in Istanbul zur Beerdigung – und alte Konflikte brechen auf
Ausgabe 08/2022

HÜSEYIN

HÜSEYIN ... WEISST DU, wer du bist, Hüseyin, wenn du die glänzenden Konturen deines Gesichts im Glas der Balkontür erkennst? Wenn du die Tür öffnest, auf den Balkon trittst und dir warme Luft übers Gesicht streicht und die untergehende Sonne zwischen den Dächern der Wohnblocks von Zeytinburnu leuchtet wie eine gigantische Apfelsine? Du reibst dir die Augen. Vielleicht, denkst du, vielleicht war jede Hürde und jeder Zwiespalt in diesem Leben nur dazu da, um irgendwann hier oben zu stehen und zu wissen: Ich habe mir das verdient. Mit dem Schweiß meiner Stirn.

Dieser Text ist ein Auszug aus Fatma Aydemirs neuem Roman „Dschinns“

Du hörst den ersten Abendezan auf dem Balkon deiner Wohnung, deiner geräumigen 3 + 1-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, für die du fast dreißig Jahre gearbeitet und gespart hast, während du vier Kinder aufgezogen und deiner Frau ein zwar bescheidenes, aber nie notdürftiges Leben geboten hast. Du hast deine Tage in drei Schichten gelebt, Hüseyin, hast alle Sonntagsdienste, Feiertagsdienste, Überstunden übernommen, hast von allen vorhandenen Zulagen in der Metallfabrik zu profitieren versucht, um die Familie durchzubringen, um dem Kleinen Fußballschuhe zu kaufen, um die Schulden des Großen zu begleichen, um ein bisschen was zur Seite zu legen. Und nun hast du es endlich geschafft. Du bist neunundfünfzig und Eigentümer. Wenn in ein paar Jahren Ümit die Schule beendet und du endlich Deutschland, dieses kalte, herzlose Land, verlassen kannst, dann gibt es diese Wohnung hier in Istanbul mit deinem Namen auf dem Klingelschild. Hüseyin! Du hast endlich einen Ort gefunden, den du dein Zuhause nennen kannst.

Genieß es, Hüseyin. Hör, wie die laute Musik aus den Läden der Straße unter dir jetzt plötzlich verstummt und da nur noch der Ezan ist und die Hupen und Stimmen von Millionen von Menschen, die weiter durch die Straßen irren, um ihren Geschäften nachzugehen. Lausch dem Geschrei der Möwen. Saug die schwüle Luft ein, die nach Abgasen und verbranntem Müll riecht, lass deinen Blick ruhig noch ein paar Minuten auf dem Gewusel da unten zwischen den Häusern ruhen, bevor du beten gehst. (…)

Einsamkeit ist eine Schleife

Du, Hüseyin, hast schon gewusst, dass du irgendwann nach Istanbul zurückkehren würdest, als du das erste Mal hier ankamst. Du kamst damals mit dem Zug aus dem Dorf und stiegst hier in Istanbul für eine Woche bei Verwandten ab, ehe du den Bus und dann die Bahn nach Süddeutschland nahmst, um dir dort eine Arbeitsstelle zuweisen zu lassen. Sie haben dich in eine Reihe mit anderen Arbeitern gestellt, haben eure nackten Körper inspiziert und euch in die Unterhosen geschaut. Das war im Frühjahr 1971.

Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin. Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst entschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat. Aber was solltest du tun, Hüseyin? Du konntest doch nicht einfach zurück in dein Dorf. Also bliebst du und tatst das, was du tun musstest, damit dein Herkommen wenigstens einen Sinn ergab.

Wie doch die Zeit vergeht, Hüseyin. Du hast in den letzten achtundzwanzig Jahren deines Lebens mehr Geld verdient, als du dir in der Türkei auch nur hättest erträumen können. Du hast es verdient, weil du dir nie zu schade für die Arbeit warst, die kein Deutscher machen wollte. Du hast nicht geahnt, dass dein Körper schon derart bald und noch lange vor dem Rentenalter genauso müde sein würde wie die deutsche Wirtschaft nach der Wende. Du wolltest in dem Moment, in dem beide Erschöpfungen zusammentrafen und die Metallfabrik schloss, wie die meisten deiner Kollegen auch in Frührente gehen, doch man gab dir leider kein Attest dafür, obwohl dein Rücken sich nach all den Jahren am Schmelzofen wie ein verkehrtes C nach innen gekrümmt hatte und dein Knie schon nach kurzen Spaziergängen furchtbar zu schmerzen begann.

Aber das hatte alles seine Richtigkeit, Hüseyin. Denn wovon hättet ihr leben sollen damals, mit noch drei Kindern zuhause, bei 900 Mark Rente? Von deinen Ersparnissen? Hättest du auf diese Wohnung hier verzichten wollen, Hüseyin, bloß damit du ein paar Jahre früher hättest anfangen können, dich auszuruhen, aber für immer in Deutschland? Natürlich nicht, Hüseyin. Also gingst du in eine andere Fabrik, mit weniger Stundenlohn und weniger Zulagen, aber immerhin reichte es, um die Ersparnisse noch auf das Nötige aufzustocken, noch ein bisschen mehr Rente einzuzahlen. Und das Zusammenfalten von Kartons konntest du nach dem jahrelangen Zusammenschmelzen von Metallresten bei 1500 Grad auch schon nicht mehr richtige Arbeit nennen. So hast du fünf weitere Jahre geschuftet, Hüseyin, bis du letztes Jahr beim Karton-Chef höchstpersönlich und betont höflich um deine Entlassung batst. Er kam dir entgegen und du fandst endlich Zeit, dich nach einer Wohnung in Istanbul umzusehen. Zeit, dich wieder deinem Glauben zu widmen, der viele Jahre wie eine ungegossene Blume vor sich hin gewelkt war. Zeit, in dich hineinzuhören und Frieden mit deinen Dämonen zu schließen. Und nächste Woche, wenn du sechzig wirst, beginnt auch für dich endlich die Rente, Hüseyin. Sie nennen es Frührente, doch nichts daran fühlt sich früh an.

Zur Person

Fatma Aydemir, geboren 1986, ist eine deutsche Schriftstellerin und Journalistin, die seit 2012 als Redakteurin bei der taz arbeitet. Dort beschäftigt sie sich u. a. mit der Türkei. Ihr Roman Ellbogen (272 S., 20 €) ist 2017 ebenfalls im Hanser Verlag erschienen. Sie lebt in Berlin

Wie doch die Zeit vergeht. Wer weiß, vielleicht gehst du gar nicht mehr zurück nach Deutschland, vielleicht bleibst du einfach hier. Vielleicht wollen Emine und deine Kinder auch bleiben, wenn sie erst einmal hier sind und sehen, wie schön du die Wohnung für sie hergerichtet hast. Vielleicht macht Ümit die Schule hier fertig. Vielleicht werden Perihan und auch Hakan sich hier verlieben und beide endlich heiraten wollen. Du erschauerst bei dem Gedanken, Hüseyin, warum denn? Warst nicht du es, der damals seine älteste Tochter Sevda händeringend an einen Mann bringen wollte, der ihr ein Ultimatum stellte, als sie siebzehneinhalb Jahre alt war? Du heiratest den oder den, entscheide dich, aber einen von ihnen nimmst du und gründest eine Familie und dann müssen wir uns wenigstens nicht mehr sorgen, was Deutschland aus unserer Sevda macht, unserer Sevda, die immer viel zu viel vom Leben will, die sich nie zufriedengibt mit dem, was sie hat, dem, was sie erreichen kann. War es nicht deine Idee, Hüseyin, Sevda so in Sicherheit zu bringen? War es nicht deine Idee, ihre Träume zu töten?

Aber, armer Hüseyin, Sevda hat gemacht, was sie wollte, mit zwei Kindern auf dem Schoß hat sie es trotzdem gemacht. Siehst du das nicht? Und nun sorgst du dich also um Perihan und Hakan, dabei solltest du längst wissen, Hüseyin, dass deine Sorgen um die Kinder dich selten zu den richtigen Entscheidungen bewegen. Ja, du lächelst, Hüseyin. Das solltest du auch, schließlich ist es ein glücklicher Tag, vielleicht sogar der beste Tag deines Lebens.

Alle Möbel sind gekommen. Die Männer haben sie nach deinen Vorstellungen aufgestellt, der Spiegel und das schwere Doppelbett für Emine und dich im hintersten Zimmer, die gemusterten Klappsofas für die Kinder in den zwei kleinen Schlafzimmern. Im Wohnzimmer steht eine verzierte Anrichte aus dunklem, poliertem Holz, ganz nach Emines Geschmack. Die Anrichte wird ihr gefallen, da bist du dir sicher.

Emine, die du liebst, seit du sie das erste Mal im Nachbardorf gesehen hast. Du warst gerade erst vom Militärdienst zurück, ein bisschen verrückt, ein bisschen gebrochen, und da lief plötzlich dieses junge Mädchen mit gesenktem Kopf vor dir durch die Gasse, weiß wie eine Baumwollknospe. Gleich am nächsten Tag hast du um ihre Hand angehalten, bei ihrer Tante, denn Emines Eltern waren zu diesem Zeitpunkt längst tot. Ihre Tante versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken, weil sie ihr zahnloses Gebiss nicht offenbaren wollte, doch schien sie mehr als froh, fortan einen Mund weniger füttern zu müssen.

Dreiunddreißig Jahre ist das jetzt her. Und du hast Emine immer geliebt, mehr als dich selbst, auch die acht Jahre, die du so weit weg von ihr allein in Deutschland warst, hast du immer an sie gedacht, hast dich jede Nacht beim Einschlafen zu ihr hin geträumt. (…)

Dieser Text ist ein Auszug aus Fatma Aydemirs neuem Roman „Dschinns“

Der Schmerz lässt nicht nach

Und dann war es dir endlich möglich, sie und die Kinder nachzuholen, das Warten hatte endlich ein Ende. Ihr zogt in die dunkle Erdgeschosswohnung eines gelben Hochhauses gleich bei der Fabrik, das nur von Türken und Italienern und einer alten deutschen Witwe bewohnt war. Ihr machtet das Beste aus allem, konntet eure Kinder auf bessere Schulen schicken, als es in der Heimat jemals möglich gewesen wäre. Ihr habt alles gegeben, zumindest bei allen außer Sevda. Aber das erste Kind ist eben immer ein Experiment, was willst du tun, Menschen machen Fehler, und bei den nächsten macht man es dann besser, nicht wahr, Hüseyin? Beim ersten, nur beim allerersten.

Und jetzt, Hüseyin, wartest du wieder auf Emine, nur dass diesmal sie in Deutschland ist und du in der Türkei. Nächste Woche wird sie nachkommen, mit Hakan, Perihan und dem kleinen Ümit, der endlich Sommerferien hat. Du bist extra früher geflogen, um die Wohnung vorzubereiten. (…)

Der Ezan ist jetzt zwar bereits zu Ende. Aber es macht nichts, wenn du heute fünf Minuten später betest, Hüseyin. Also stößt du die Tür auf und gehst in die Küche und packst das Obst aus, lässt lauwarmes Wasser darüberlaufen. Die Balkontür bleibt offen, damit der künstliche Geruch der neuen Möbel hinauszieht. Die Aprikosen gären schon leicht, so magst du sie am liebsten. Sie schmecken zuckrig und sind fast Matsch.

Du isst eine, dann noch eine. Und gerade willst du zum Bad laufen, Hüseyin, um dich für das Gebet vorzubereiten. Gerade hast du beschlossen, deine klebrigen Finger nicht in der Küche zu waschen, sondern direkt ins Bad zu gehen, wo du dir sowieso deine Hände und dein Gesicht und deine Arme und deinen Kopf und deine Ohren und deinen Nacken und deine Füße waschen wirst, gerade hast du den ersten Schritt aus der Küche in den Flur gemacht, da spürst du ein scharfes Stechen in deinem linken Arm.

Du fragst dich, ob du dich vorhin übernommen hast, als du den Möbelpackern halfst, die zwei Sofas und drei Schlafsofas durch den Flur zu tragen, obwohl sie deine Hilfe dankend ablehnten. Aber so schwer waren die Sofas gar nicht. Der Schmerz lässt nicht nach. Er sticht zu. Wieder und wieder. Er ist wie eine Hacke, die dein Fleisch entzweit, Hüseyin.

Angstschweiß treibt dir in den Nacken, dein Körper kennt diese Art von Schmerz nicht. Und plötzlich breitet sich eine Enge in deinem Brustkorb aus, als zöge sich dein ganzer Oberkörper zusammen, bis er nicht mehr größer ist als ein Knopf. Du bleibst trotzdem stehen, Hüseyin. Du stehst da und kreuzt die Arme über der Brust, als umarmtest du dich selbst. Und musst dich hinsetzen. Du machst zwei Schritte in Richtung Wohnzimmer, wo der neue Esstisch und die dazugehörenden neuen Polsterstühle stehen, aber während der zwei Schritte überkommt dich plötzlich eine solche Übelkeit, dass du doch lieber schnell ins Bad willst, aber das schaffst du jetzt nicht mehr, und dein Körper beugt sich nach vorne und du erbrichst dich vor der Wohnungstür mitten auf deinen Flur.

Du hustest und gehst in die Knie und schreist so laut du kannst nach der Nachbarin Halime Bacı. Du hämmerst mit beiden Händen gegen den Boden, doch du weißt nicht, ob dieses Klopfen überhaupt zu hören ist. Die Welt dreht sich, im Vorbeiziehen siehst du die Aprikosenstückchen auf dem Eichenfurnierboden. Dein Körper versucht, sich aus der Hocke wieder aufzurichten, doch er schafft es nicht, Hüseyin, alles ist zu schwer, zu viel, zu eng, dein Brustkorb ist voller ruckartiger Krämpfe, und während du nach Halime schreist, schnellst du nach oben und verlierst dein Gleichgewicht und dein Körper plumpst auf den Boden und in dein Erbrochenes.

Du hältst den Kopf mit aller Kraft hoch, du schreist, du ringst um Atem, du schreist wieder, und plötzlich hörst du Halime Bacıs Stimme im Hausflur, das Klatschen ihrer Schlappen hoch zu dir auf den Steintreppenstufen, der Krampf in deinem Oberkörper ist zwei Sekunden weg, du schaffst es irgendwie, in diesen zwei Sekunden deinen Arm zur Türklinke zu hieven und die Wohnungstür zu öffnen, und da kommt schon der nächste Krampf, mit noch größerer Wucht, ein Schmerz, so scharf, so bitter, wie du ihn nie zuvor gespürt hast, du stößt Schreie aus, die so seltsam klingen, dass du sie dir selbst nicht zuordnen kannst, die Schreie müssen von draußen kommen, unmöglich können diese Klänge aus dir selbst stammen.

Du siehst Halime Bacıs langes, ovales, erschrockenes Gesicht über dir. Du verstehst nicht, was sie sagt, aber ihr Gesicht zittert, ist ganz entsetzt und fahl. Es ist ein Spiegel, in dem du sehen kannst, in welchem Zustand du dich selbst befindest, Hüseyin.

Der wattige Gedanke in deinem Kopf wird plötzlich ganz klar: Es ist zu Ende. Schluss. Aus. So stirbst du also. In deinem eigenen Erbrochenen, das aus matschigem Obst besteht, in der Wohnung, von der du dein ganzes Leben lang geträumt hast, du stirbst einfach so, ohne das Glitzern in den Augen von Emine zu sehen, wenn sie das erste Mal hier reinkommt, ohne die jugendliche Aufregung deiner jüngeren Tochter und deiner beiden Söhne zu spüren, nichts wirst du jemals davon mitbekommen, wie sie die von dir ausgesuchten Möbel finden und die chaotische Nachbarschaft und überhaupt Istanbul, das sie doch nur von Postkarten kennen und von den ein oder zwei Kurzbesuchen in ihrer Kindheit und natürlich aus dem Fernsehen.

Eigentlich wie du, Hüseyin. Warum wolltest du gerade nach Istanbul kommen? Was weißt du schon von diesem Ort? Ist es wirklich dieser Ort, nach dem du dich sehntest, oder bloß eine Erinnerung? Eine Erinnerung an das Entkommen aus der Heimat, an den Zwischenstopp vor der Fabrik, an den Ort, an dem es nicht mehr um das Vergessen ging und noch nicht um das Arbeiten. Den Ort, an dem du zum ersten Mal atmen konntest.

Du willst atmen, Hüseyin, du willst nicht sterben, nicht jetzt, obwohl du ein gläubiger Mann bist, obwohl du immer gesagt hast, dass du bereit seist, wann immer Azrael dich holen komme, vielleicht, denkst du jetzt, hast du insgeheim gehofft, dass dein Glaube dir zu einem langen, gesunden Leben verhelfen könnte. Wie naiv du doch gewesen bist, Hüseyin. Du bist nicht bereit. So kann es einfach nicht enden. Nicht so. Wäre deine Zunge nicht so schwer wie Blei und dein Mund so verzogen vom Schmerz, der in dir kocht und hochlodert wie ein unkontrollierbares Feldfeuer, das gelegt wurde, um alles feindliche Leben auszulöschen, du würdest zu Allah beten, du würdest Azrael anflehen, dass er oder sie oder es dir noch eine Woche schenkt, bitte, nur noch eine Woche, nur diese eine Gnadenfrist, um deiner geliebten Familie die Wohnungstür gleich hier vor dir öffnen zu können und sie durch diese hellen Zimmer zu führen, das ist Hakans und Ümits Schlafzimmer, das ist Perihans Zimmer, das ist das Wohnzimmer, hier ist unser Balkon, da vorne ist ein zweiter, an unserem Schlafzimmer, Emine. Nur noch eine Woche, um mit ihnen am Wasser spazieren zu gehen, um deinen Kindern einen Çay auszugeben, um die Hand deiner Tochter zu halten und ihr zu sagen, wie sehr du sie liebst, um deinen Söhnen zu sagen, dass du stolz auf sie bist, um Sevda anzurufen und sie um Verzeihung zu bitten, um die Stimmen deiner Enkelkinder zu hören, die du seit Jahren so vermisst, vielleicht auch ein bisschen mehr noch als eine Woche, du hast doch längst das Rauchen aufgegeben, Hüseyin, das verlängert doch das Leben, wie kannst du ausgerechnet jetzt an einem Herzinfarkt sterben und alles verpassen, was sich hier in dieser Wohnung abspielen wird, in deiner Wohnung?

Hüseyin, du strengst deine Augen an, du reißt sie auf, du siehst dich um. Halime Bacı ist weg und dann schon wieder da, du verstehst, dass Halime den Krankenwagen gerufen hat und dich anfleht, noch etwas durchzuhalten, sie wischt dir mit einem nassen Lappen über dein Gesicht, eiskalt fährt er dir über die Stirn, über die Nase, an deinen zuckenden Mundwinkeln vorbei. Für einen Moment fühlt es sich an, als öffne sich ein Loch in deinem Herzen, ein Loch, in dem all der Schmerz verschwindet, er versinkt, er ist weg.

Hüseyin, du weißt, das hält nur einen Moment, dass er weg ist, du weißt, er wird zurückkommen, jetzt gleich, der Schmerz wird zurückkommen, du kannst nicht sagen, woher du dieses Wissen hast, woher du das so genau weißt, aber der nächste Krampf wird sicher kommen und er wird ungeheuer stark sein, er wird dich weit wegtragen von hier, du weißt das, also nutzt du die klaffende Leere in deinem Brustkorb, nutzt die letzte Kraft, die du in dir finden kannst, um deine Lippen zu bewegen, die fahle, panische Halime sieht dich fragend an, nähert dann ihr Ohr deinem Mund, um besser verstehen zu können, was du zu sagen hast, du murmelst es, ein Wort, und Halime fragt »Wie bitte? Wie bitte?«, doch du kannst nicht mehr, du siehst einen Schatten auf die Wand fallen und du spürst kalte Schweißperlen in deinem Nacken, aber du musst dich nicht fürchten, Hüseyin, dieser Schatten, das bin nur ich. Ich verspreche dir, ich werde hierbleiben, in diesem Haus, in deiner Wohnung, und ich werde über deine Familie wachen, wenn sie hier eintrifft, ich gebe dir mein Wort, Hüseyin, ich verspreche es dir, für dich aber ist es nun Zeit zu gehen, daran kann nicht einmal ich etwas ändern.

Hab keine Angst, Hüseyin, komm, atme ein, nimm einen kleinen Atemzug, nur so viel Luft, wie du brauchst, um wieder Herr über dich selbst zu sein, um deine Worte zu flüstern, du hast sie dir ein Leben lang für diesen Moment aufgehoben, und eigentlich willst du sie noch nicht sagen, weil du noch gar nicht aufgeben willst, doch es liegt nicht mehr in deiner Hand, nichts liegt mehr in deiner Hand, Hüseyin, und du willst es tun, bevor es zu spät ist, du atmest ein, um loslassen zu können, um selbst entscheiden zu können, dass es der Moment ist loszulassen, du atmest ein und flüsterst Eşhedü en la ilahe illallah

SEVDA

SEVDA BETET. Sie trägt ihre große schwarze Sonnenbrille, sitzt mit den Kindern auf der Rückbank des Taxis und betet, Al-Fatiha und Al-Ikhlas, die ersten beiden Gebete, die sie in ihrem Leben gelernt hat. Sie hat keine Ahnung, wovon sie handeln, keine Ahnung, was diese Worte bedeuten, die sie als Kind auswendig lernen musste, sie spricht ja kein Arabisch, woher soll sie es wissen. Sie wiederholt nur die Klänge und Rhythmen, den Ton. Aber immer wenn ihr der Kopf vor lauter Panik aussetzt, fallen ihr diese beiden Koransuren ein und sonst nichts. Sie sind wie ihre Treppengeländer in einem stockdunklen Haus. Sie sind ihr Halt.

Die Nachricht vom Tod ihres Vaters ist wie eine Walze über Sevdas Leben gerollt, wie eine unmissverständliche Botschaft von oben. Als wolle Allah sie bestrafen für das, was sie seit Monaten treibt ohne auch nur einen Hauch von Scham zu empfinden. Es gibt sie also doch, die Gerechtigkeit, da ist sie nun, um über Sevdas Kopf zusammenzubrechen wie ein niederbrennendes Haus. Sevda ist am Morgen die Treppe runter zu ihrem Laden geeilt, hat Frau Meyer aus dem zweiten Stock gebeten, mit Edding auf einen großen Zettel Wegen Trauerfall geschlossen zu schreiben, und hat den Zettel an die Tür neben die Öffnungszeiten geklebt. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hat Sevda den Laden zugemacht, der sonst sechs Tage die Woche geöffnet ist. Das Wort Trauerfall schlug Frau Meyer vor, so sagt man das wohl im Deutschen, damit man nicht Mein Baba ist tot an die Tür schreiben muss. Das hatte ihr Sevda zuerst diktiert.

Dann hat Sevda ihre beiden Angestellten angerufen und angewiesen, zuhause zu bleiben, damit sie ihr nicht das Geschäft ruinieren, während sie weg ist. Davide und Moni taugen einfach zu nichts, wenn man ihnen nicht jede Minute auf die Finger schaut und sagt, was zu tun ist. Wahrscheinlich würden sie die ganze Schicht lang in der Küche rumturteln und es nicht einmal bemerken, wenn Gäste reinkämen und sich an einen der Tische setzten. Man kann sich auf dieser Welt auf niemanden verlassen außer auf sich selbst. Wer sollte das besser wissen als eine Frau, die von denen verraten wurde, die ihr am allernächsten waren?

Das Taxi gleitet durch eine flache Landschaft ohne Bäume, die Sevda seltsam fremd vorkommt. Dabei kennt sie diese Schnellstraße, sie führt zum Flughafen und auch zu dem Großhändler, zu dem Sevda ab und zu für den Laden einkaufen fährt. Ihr ist nie aufgefallen, wie trostlos und leer die Gegend ist. Grüne und gelbe Felder wechseln sich ab, schließen so nahtlos aneinander an, dass Sevda schlecht wird vom Hingucken. Sie betet weiter, merkt, wie ihr immer noch Tränen übers Gesicht laufen, bis zum Kinn. Sie nimmt die Sonnenbrille ab, wischt sich mit der Hand über die Wangen, betrachtet ihre vom Mascara geschwärzten Fingerspitzen. Sie schaut an sich hinunter. Auf dem Jäckchen ihres rosafarbenen Twinsets glänzt wässrig ein Fleck. Auch das noch.

Wer kommt bloß auf die Idee, sich auf dem Weg zur Beerdigung des eigenen Vaters zu schminken? Für wen? Wozu? Ist das etwa ihre Art, am Leben festzuhalten, sich gegen den Tod zu wehren? Ich bin eine Frau, ich lebe, also schminke ich mich? Wie armselig.

Vielleicht hat sich das Schminken heimlich in Sevdas Körper eingeschlichen, vielleicht passiert es automatisch, wann immer sie den Laden nicht öffnen muss. Montags, am Ruhetag, nutzt Sevda normalerweise ihre paar kostbaren Extraminuten, um ein bisschen Schminke aufzutragen, bevor sie sich an die Abrechnung setzt und anschließend zu den Händlern muss. An allen anderen Tagen der Woche rennt Sevda ständig zwischen dem Laden im Erdgeschoss und ihrer Wohnung im ersten Stock hin und her, um die Kinder und die Gäste gleichzeitig zu versorgen, um zu kochen, das Geschäft am Laufen zu halten und die beiden Angestellten zu kontrollieren, die seit Neuestem bescheuerterweise auch noch ein Paar sind und nur noch Augen füreinander haben. Dann schafft Sevda es höchstens mal, ihr Gesicht einzucremen und die Haare zu kämmen, bevor sie vor die Gäste tritt, und das war es schon. Aber einmal die Woche will Sevda sich schön fühlen. Einmal die Woche lässt sie sich ein Bad ein, schmiert sich eine Maske ins Gesicht, massiert eine Kur in die Spitzen ihrer Locken ein und zieht einen feinen schwarzen Lidstrich über ihre Augen. Einmal die Woche macht Sevda eine Stunde lang etwas nur für sich selbst.

Bahar lehnt den Kopf an Sevdas Schulter. Sevda schluchzt noch immer wie eine von Bahars kleinen Schulfreundinnen, wenn ihnen peinlich ist, dass sie gerade hingefallen sind.

»Mami, bitte nicht traurig!«, sagt Bahar.

Cem sieht Sevda nur ängstlich von der Seite an. Ihre Kinder haben sie noch nie weinen gesehen. Immer ist es ihr gelungen, sich vor ihnen zu verstecken, wenn sie in einen Heulkrampf ausbrach. Aber der hier ist anders.

»Sein«, korrigiert sie Bahar und wischt sich den Mascara mit einem Taschentuch aus dem Gesicht. »Bitte nicht traurig sein, heißt das. Da muss ein sein hin, Bahar. Sprich nicht wie ein Ausländer.«

Die Kleine dreht sich weg und sieht aus dem Fenster. Sevda setzt ihre Sonnenbrille wieder auf.

✦ ✦ ✦

Al-Fatiha, die erste Sure des Koran, bekam Sevda von ihrer Oma beigebracht, als sie vielleicht so alt war wie ihre Tochter jetzt, sieben. Niemals aufbegehren, immer dankbar sein für das, was man hat, auch das hat ihre Babaanne ihr beigebracht, selbst wenn sie Sevda das genaue Gegenteil vorlebte. Ihre Babaanne ließ sich nämlich von niemandem irgendetwas sagen, und schon gar nicht von ihrem Mann. Sie sah sich immer im Recht, und oft schien sie es auch zu sein. Und doch forderte Babaanne von allen anderen Demut ein und predigte sie, als wäre sie die höchste aller Tugenden und garantiere ein besonders schattiges Plätzchen im Paradies.

Als Sevda im Alter von zwölf Jahren mit den Großeltern in Karlıdağ zurückbleiben musste und der Rest der Familie nach Deutschland zu Hüseyin durfte, war Sevda vor allem verwirrt darüber, dass man Dinge von ihr erwartete, die für andere nicht zu gelten schienen. Sie musste aber erst dreizehn Jahre alt werden, bis sie sich das allererste Mal traute, deutlich und bestimmt Nein zu sagen. Immerhin ging es um ihr Leben.

»NEIN. ICH. WILL. NICHT. HEIRATEN«, flüsterte Sevda damals, aber mit einem Nachdruck, der ihr Flüstern wie einen Schrei vibrieren ließ. Ihre Babaanne sah überrascht vom Gasherd auf und zu Sevda rüber. Dann streichelte sie ihr mit ihren schrumpeligen hennaroten Fingern über die Wange, wie um Sevda dafür zu loben, dass sie sich ihr endlich widersetzte.

»Kind, niemand wird dich dazu zwingen. Aber irgendwann musst du heiraten, und ich sage dir: Dieser Mann ist Lehrer. Einen besseren als ihn findest du hier nicht.«

Sie löste ihre kalten Finger von Sevdas weichem Gesicht und drückte ihre Hand. In Sevdas Augen sammelten sich Tränen. Sevda wandte den Blick von ihrer Babaanne ab und atmete flach, um die Tränen bei sich zu behalten. Ihre Augen fixierten das große runde Emailletablett, das an die Wand gelehnt dastand und auf dem ihre Babaanne sicher frischgeschnittene Hengel für den Lehrer servieren würde, wie sie es immer tat, wenn besondere Gäste kamen.

»Mir ist egal, ob er Lehrer ist. Der ist doch viel zu alt! Babaanne, ich will ihn nicht!«

Noch zwei Tage zuvor, als sie Sevda gesagt hatten, dass der Grundschullehrer sich bei ihrem Dede angemeldet hatte, um bei ihm um Sevdas Hand anzuhalten, hatten ihr die Ohren geglüht vor Aufregung. Sevda gefiel die Idee, dass jemand in sie verliebt war und sie mit ihm ein eigenes Zuhause haben würde, mit einem eigenen Ofen und einem eigenen Fernseher, vor dem sie jeden Sonntagabend Arm in Arm liegen würden, um gemeinsam Dallas zu schauen. Vielleicht würden sie sich danach auf den Mund küssen wie Pamela und Bobby. Sevdas Atem stockte bei dem Gedanken. Sie warf sich auf den Divan, schloss die Augen, malte sich aus, wie es weitergehen würde nach diesem Kuss.

Doch mit jeder vergehenden Stunde wurde Sevda klarer, wie wenig alles um sie herum jener Welt glich, in der Pamela im Badeanzug am Pool lag, bunte Getränke schlürfte und zum Abendessen an einer langen Tafel saß, und dass es hier weder einen Pool gab noch Frauen, die Badeanzüge besaßen oder an Tafeln aßen, und so verwandelten sich Sevdas Dallas-Träume schließlich wieder zurück in das Leben, das alle Frauen führten, die Sevda kannte: In ein Leben, das immerzu nach gedünsteten Zwiebeln roch, in dem ständig Kinder aus den Schößen purzelten, in dem man zuhause auf dem Boden aß und in den Wintern wegen der ununterbrochen heizenden Öfen schwitzte und in den Sommern fror.

»Ich werde nach Deutschland ziehen, Babaanne.«

Babaanne saß auf einem Kelim auf dem Küchenboden und schälte einen Apfel. Ihr grün glänzendes, geblümtes Samtkleid erinnerte Sevda an die Blumenwiesen im Dorf, die jedes Jahr nach sechs Monaten Schnee wie durch ein Wunder innerhalb weniger Tage erblühten. Vielleicht trug Babaanne ihre geblümten Kleider, um sich an ihr Dorf oben in den Bergen zu erinnern, das sie niemals hatte verlassen wollen und auch niemals verlassen hätte, wenn ihr Sohn Hüseyin sie nicht dazu gezwungen hätte. Sevda war acht gewesen, als sie mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und den Großeltern runter in die Stadt gezogen war. Seitdem fuhr Babaanne jeden Sommer für ein paar Tage hoch ins Dorf zu den Verwandten, von denen es immer weniger gab, alle gingen sie weg nach Karlıdağ und in andere Städte.

Mit einem der Messer, die Sevdas Baba aus Deutschland mitgebracht hatte, zog Babaanne Kreise über den Apfel, bis die Schale als Spirale auf die Blumenwiese in ihrem Schoß fiel.

»Ich werde in Deutschland zur Schule gehen«, sprach Sevda ungefragt weiter. »Ich werde eine Geschäftsfrau werden, Babaanne.«

Info

Dschinns Fatma Aydemir Hanser 2022, 368 S., 24 €

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