Sobald sich das Gras der Hasenheide von braun nach etwas grün gefärbt hat, führen kleine, hellgelbe Trampelpfade zur Hasenschänke. Dort trifft sich die Neuköllner Bevölkerung, um sich gepflegt Getränke in die von der Sonne beschienenen Körper zu füllen. Die Hasenschänke sieht aus wie eine Tankstelle. Vielleicht war dort früher auch eine Tankstelle, die Hasentanke, bevor der Park drumrum gepflanzt wurde. Anstelle der Zapfsäulen stehen da nun Tische und Stühle, die im Laufe des Tages mit der Sonne und den Trinkenden immer weiter vom Zahlhäuschen wegrücken. Es ist eben ein bewegtes Café. Am Morgen befindet es sich noch direkt an der pilzartig überdachten Ausschänke, am Abend meilenweit davon entfernt.
Ich weiß das, weil ich gehe jeden Tag in die Hasenschänke. In meinem Hasenkostüm sitze ich dort unter den anderen Hasen und nehme eine Art Kaffee und gegen später das beliebte dunkelgelbe Hasengetränk zu mir. Besonders Hopfen ist beim Hasen fast so beliebt wie Gras. Manche der Hasen tragen Jogginganzüge. Die Sonne scheint uns auf die langen Löffel, wir sind friedlich, trinken und verrücken unsere Tischchen in einer regelmäßigen Bewegung, die alle Hasen ergreift. So vergeht der Tag in einem Hasentempo.
Am Rande des Parks erhebt sich die Neue Welt. Eine Betonfreitreppe führt vom Park direkt in sie hinein. Die Neue Welt besteht aus Einkaufszentrum, Bowling-Bahn, Fitnesscenter und Baumarkt.
Für das Fitnesscenter bin ich zu alt, ich kann nur noch die Supermärkte besuchen. Mehrmals am Tag besuche ich die Supermärkte, um mich von meiner Arbeit abzulenken. Jetzt könnte ich doch eine Flasche Milch kaufen, denke ich, und kann vorher noch hintenrum durch den Park gehen und einen Schlenker über die Hasenschänke machen. So strukturiert sich für mich der Tag.
Gestern trug ich eine Packung Kaugummis zum Supermarkt hinaus, als eine Dame folgenden Satz sagte, mit dem es ihr gelang, die Stimmung in Neukölln ganz gut zusammenzufassen. Sie trug einen sehr langen, grauen Anorak und in den Händen große Tüten. MAN KÖNNTE SOVIEL, WENN MAN WOLLTE, sagte sie, ABER MAN WILL NICHT, NICHT WEGEN KEINE LUST, SONDERN ES GEHT UMS GELD.
Geld hat hier niemand. An den Bankomaten bilden sich lange Schlangen. Der Mann vor mir kriegt aber auch dort keins raus. Aus der Anoraktasche sehe ich ein kleines Büchlein ragen. Es trägt den Titel MACH WAS! Der Mann ist traurig und dreht beigefarben ab. So kann er nicht einmal in die Hasenschänke gehen. Mach was! Ist das eine Broschüre, die das Arbeitsamt verteilt? Man könnte so viel, wenn man wollte, aber man will nicht, nicht wegen keine Lust, sondern es geht ums Geld. Täglich geben wir 50 Euro aus, sage ich zum Bankomat. Ich sage "wir", dann bin ich nicht alleine schuld.
Zurück in der Hasenschänke werde ich Zeugin folgenden Gesprächs, welches die Stimmung in Neukölln auf andere Weise ebenfalls eindrucksvoll zusammenfasst: Man muss es halt einfach mal machen. / Ja, wir haben auch gesagt, dass wir es mal machen. / Man muss sich halt einfach mal die Zeit dazu nehmen. / Sollte man auch mal machen. / Ja. Sollte man. (Steht auf, holt eine neue Runde Bier)
Eigentlich wäre es toll, wenn man. / Weißt du, was wir machen können. Wir könnten auch regelmäßig, aber das wäre dir dann auch zuviel dann! / Man könnte ja zuerst mal so ein Probedings machen. / Das könnte man echt mal machen. / Könnte man halt mal ausprobieren. / Vielleicht wenn ihr, obwohl / (Steht auf, holt eine neue Runde Bier)
Am Nebentisch feiert eine ganze Familie den sonnigen Tag mit Weizenbier. Dünn aus dem Stahlstuhl aufwachsend: der Vater oder Freund. Die Mutter in weißem Jogginganzug mit silbernen Applikationen. Neben der Mutter im Partnerlook: die Tochter. Sie ist vielleicht zwölf. Dazu Freunde mit Pferdeschwänzen, Bekannte am Weizenglas, Gelächter. Jetzt geh ich ne Runde Schnaps holen. Die Mutter. Sie steht im Rücken ihrer Tochter. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Los, komm! Nee, danke Mutti. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Los, komm! Nee, danke Mutti. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Los, komm! Nee, danke Mutti. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Los, komm! Nee, danke Mutti. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Los, komm! Nee, danke Mutti. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Los, komm! Nee, danke Mutti. Du auch einen! Nee, lass mal, danke Mutti. Es ist nicht so, dass ich auf die Copy-Taste meines Computers gekommen wäre. Es ist zwölf Uhr mittags. Die nervenden Rufe der Mutter vermischen sich mit dem Gesang der Vögel, dem Bellen der Hunde unter den Tischen.
Ich habe doch noch etwas vergessen (Möhren!!) und erhebe eiligst meinen Puschel vom Stuhl, um erneut in die Neue Welt aufzubrechen.
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