Jürgen Müller-Hohagen hat eine zentrale These: "Es sitzt in den Familien drin." Die Nazi-Zeit hat nach seiner Überzeugung über Generationen hinweg Spuren in den Seelen hinterlassen. Und je mehr verleugnet, verdrängt und verschwiegen wurde, umso tiefer sitzen die Traumata, die Ängste, Schuldgefühle oder Depressionen. Für Müller-Hohagen ist dies mehr als eine Theorie. Es ist seine auf ungezählten Beispielen gründende Erfahrung als Psychologe und Psychotherapeut.
In seinem 1988 erstveröffentlichten, jetzt völlig überarbeiteten und ergänzten Buch Verleugnet, verdrängt, verschwiegen geht er nicht nur den "seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit" nach, er will auch "Wege zu ihrer Überwindung" zeigen. Das ist seine eigentliche Botschaft: "Wenn wir hinschauen auf die dunkle Seite in uns, dann werden sich auch Wege auftun, um besser damit umgehen zu können." Er bezieht dies nicht nur auf einzelne Personen und Familien, sondern auf die Gesellschaft insgesamt, auf ihren Umgang mit Kindern und Alten, mit Migranten oder Behinderten, auch mit Rechtsextremismus und Terror. "Es wäre in verschiedenen aktuellen Fragen wichtig, wenn gesellschaftlich genauer Notiz genommen würde von fortbestehenden NS-Verstrickungen in den seelischen Untergründen."
Der Diplom-Psychologe arbeitet an einem sozialen Brennpunkt: Er ist Leiter der Evangelischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle in München-Hasenbergl. Und er lebt an einem zeitgeschichtlichen Lernort: in Dachau, dem Ort des ersten Konzentrationslagers der Nazis. Beide Hintergründe sind bestimmend für sein Wirken als Therapeut wie als Autor. Der 59 Jahre alte Wissenschaftler hat in Dachau, wo er seit 1982 wohnt, begonnen, sich intensiver mit der NS-Vergangenheit zu befassen. Und dies, weil er sich selbst bei einer subtilen Art der Verleugnung ertappt hatte. Beim Besuch eines Zeitzeugengesprächs mit der Widerstandskämpferin Centa Herker-Beimler hatte er sich gewundert, dass diese "noch so jung" war, dass "so jemand" überhaupt noch lebte, wo doch die Zeit ihrer Aktivität "so weit zurück" lag. Selbstkritisch stellte er damals fest, dass "irgendetwas nicht stimmt - in mir. Allmählich dämmert mir, für wie weit entfernt ich diese Zeit gehalten habe, von mir weggehalten".
Selbstreflexion und peinlich genaues Hinschauen prägen das auch für Laien gut verständliche, an Quellenverweisen reiche Buch. Der Autor beleuchtet jene psychischen Abgründe, die er als "deutsche Unterwelt" bezeichnet. Ausgehend von der Erkenntnis, dass es 1945 "keine Stunde Null" gab, betrachtet er "die gesamte Breite der Hintergründe - von den Verfolgten bis zu den Flüchtlingen und Ausgebombten". Dabei lässt er nie einen Zweifel an seiner Grundposition: dass es einen extremen Unterschied macht, ob jemand als Nachkomme von Tätern oder als Nachkomme von Verfolgten unter psychischen Folgen leidet. Für das ganze Buch gelte, so betont er: "Seinen Horizont bilden die Erfahrungen der Verfolgten."
Dennoch konstatiert der Psychologe bei allen Gruppen von Betroffenen "ein Meer von Leid". Er schildert viele Beispiele aus seiner Praxis. Da ist etwa der neunjährige Sinti-Junge mit autoaggressiven Handlungen, dessen Vater als Kind im KZ gewesen war. "Dieser war nicht in der Lage, auch kleinere kindliche Aggressionen seines Sohnes, die sich beim Kicker-Spielen mit mir völlig im üblichen Rahmen bewegten, zu ertragen. Wie halten Sie das nur aus?, fragte er mich." Oder der siebenjährige Markus, dessen Gedanken um Selbstmord kreisen und der unter extremen Angstzuständen leidet. Erst nach und nach kommt das dahinter liegende "verschwiegene Drama" seiner Familie zu Tage: Sein Großvater hatte sich nach dem Krieg erhängt. Markus hatte, "wie es typisch ist für Kinder, das Familiengeheimnis dunkel erahnt, war den damit verbundenen unheilvollen Kräften hilflos ausgeliefert und dicht daran, das Schicksal des ihm völlig unbekannten Großvaters unbewusst zu wiederholen."
Der Autor skizziert "die Trümmerlandschaften auf seelischem Gebiet", die der Bombenkrieg hinterlassen hat. Er stellt "Löcher in der Wahrnehmung" fest, wenn es um seelische Folgen bei Soldaten und ihren Angehörigen geht. Er thematisiert "das große Tabu" des Zusammenhangs von Krieg und Sexualität. Er beschreibt eine von ihm häufig beobachtete Dynamik: "Das ist die enge emotionale Bindung von Töchtern an ihre NS-identifizierten (Täter-)Väter, von denen sie Nähe und Wärme erfuhren, während die Mütter in kalter Distanz blieben."
Ebenso nüchtern wie erschütternd stellt der Verfasser im Kapitel über Missbrauch und Gewalt fest: "Viele NS-Täter und Mitmacher haben weitergemacht nach 1945, weitergemacht dort, wo es gefahrlos ging, nämlich besonders im Schoß der Familie." Und er lässt keine Umdeutung von Tätern zu Opfern zu. Denn gerade darin sieht er "einen der zentralen Vorgänge, durch den reale Schuld geleugnet wurde und die nachfolgenden Generationen bis tief in die seelisch-geistige Substanz hinein verwirrt wurden".
Psychologisch differenziert erläutert Müller-Hohagen die Begriffe Traumatisierungen, Ängste, Schuld, Gewalt, Desorientierungen und Loyalitäten. Und schließlich prägt er selbst einen Begriff: "Verbundenheit". Es ist sein Gegenmodell zur Nazi-Ideologie. Als deren Wesen, als typisch "nazihaft" analysiert er "das Zerschneiden des Bandes zwischen Menschen ..., das Zerschneiden ihrer Verbundenheit". Dagegen setzt er das auf tiefem Vertrauen, auf Miteinander und Solidarität basierende Verhalten von KZ-Überlebenden: Zeitzeugen wie Hermann Langbein, der Protokollant des Auschwitz-Prozesses, oder Eugen Kessler, langjähriger Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau. Deren Widerstandskraft und lebenslanges Engagement sind ihm Vorbild. "Die Verbundenheit eines Eugen Kessler war mehr als ein Zusammenschluss gegen die Nazis, verwies auf Tieferes, hatte letztlich die ganze Menschheit im Blick. . . . So ist sie genau das Gegenstück zu dem, was die Nazis so beispiellos radikal getan haben, nämlich anderen die Zugehörigkeit zur Menschheit abzusprechen."
Verleugnet, verdrängt, verschwiegen geht insofern über die Analyse eines Fachmanns für Psychologie hinaus. Es ist der Appell eines humanistisch orientierten, gesellschaftspolitisch engagierten Menschen, in Familie und Arbeitswelt, Wirtschaft und Politik "Wege des Miteinanders" zu gehen - und dabei die seelischen Nachwirkungen der Nazi-Zeit stets mitzubedenken. Es liest sich gewiss nicht zufällig wie ein Rat, wenn Müller-Hohagen die Zeitzeugin Hanna Mandel zitiert: "Wärme und Liebe können sich nur dort entwickeln, wo klare Verhältnisse bestehen, wo wirklich miteinander geredet wird, ohne die Belastungen aus der Vergangenheit auszuklammern. Anders geht es nicht."
Jürgen Müller-Hohagen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung. Kösel, München, 2005. 328 S., 19,95 EUR
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