1945: Der letzte Akt

Zeitgeschichte Das NS-Regime ist am Ende. Noch im Untergang zeigt es seine Grausamkeit bei der Evakuierung von Konzentrationslagern und Massakern in Gefängnissen
Ausgabe 19/2020

Gino Pezzani wurde im April 1945 mit mehr als 30.000 anderen Häftlingen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen Richtung Nordwesten getrieben. Hunderte von zu Tode Erschöpften blieben am Wegesrand liegen und wurden durch Angehörige der SS-Begleitmannschaft noch wenige Tage vor der Befreiung durch die Rote Armee erschossen. In der Nähe von Wittstock kam es zwischen dem 23. und 29. April im Belower Wald sogar noch dazu, ein Lager unter freiem Himmel zu errichten.

Gino Pezzani hat überlebt und hinterlässt 1950 ein Zeugnis des Todesmarsches. Der Schweizer Maler, als politischer Häftling in Sachsenhausen, stellt auf seinem Gemälde das Leiden der Evakuierten in den Mittelpunkt, die sich mit letzter Kraft auf den Beinen halten. Nur am Rand sind die Schergen der SS zu sehen.

Die Kulturwissenschaftlerin Janine Fubel, die zur Evakuierung des KZ Sachsenhausen geforscht hat, rekonstruiert in ihrer Dissertation die Handlungslogik der NS-Täter, die stets wussten, wie nah die Sowjetarmee dem Lager im Norden Berlins schon gekommen war. Fubel zeigt, dass ein Zusammenschießen aller Insassen keine Option mehr war – zu wenig Zeit, zu wenig Munition. Es blieb nur die Evakuierung, selbst das Krematorium – Beleg für den kurz zuvor begangenen Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen – wurde in Einzelteile zerlegt und vergraben.

Was in der Rückschau wie ein überstürztes Vorgehen wirkt, ist die Konsequenz einer Frontlage, die Anfang 1945 dazu führt, dass die Wehrmacht größtenteils auf Reichsgebiet kämpft. In der Folge sind staatliche Institutionen im östlichen Brandenburg gezwungen, ihre eigene Auflösung und räumliche Verschiebung voranzutreiben. Das trifft mit Haftanstalten und Konzentrationslagern auch auf kritische Orte für Gestapo und SS zu, an denen oft mehr als ein Jahrzehnt lang politische Gegner gequält und ermordet wurden, wie das charakteristisch für die NS-Diktatur war. Die beginnenden Evakuierungen zeigen, dass diese Herrschaft zu Ende geht, aber sie geben zum letzten Mal einen Raum, in dem sich das Wesen des Regimes offenbart und gegen Menschen allein deshalb richtet, weil sie zu einer bestimmten, definierten Gruppe zählen.

Janine Fubel ist in den erhalten gebliebenen Evakuierungsplänen für das KZ Sachsenhausen auf das Codewort „Sonnenburg“ gestoßen, bezogen auf das 15 Kilometer östlich der Oder gelegene Zuchthaus Sonnenburg. Dort kommt es in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 zu einem Massaker, dem 819 Gefangene zum Opfer fallen. Danach wird der preußisch geprägte Gefängnisbau in Brand gesteckt. Da die Rote Armee bereits in der Nähe steht, verlassen die Täter Sonnenburg, ohne die Spuren ihres Verbrechens zu verwischen.

Ein Arbeitskreis um den Historiker Hans Coppi, geboren 1942 in einem Berliner Frauengefängnis als Kind der zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern Hilde Coppi, hat bereits 2015 das Sonnenburg-Massaker wie dessen mangelnde juristische Aufarbeitung erforscht und sich um eine Dauerausstellung in der heute polnischen Gemeinde Słońsk verdient gemacht. Der Historiker Daniel Queiser weist in seinem Beitrag für Coppis Studie darauf hin, dass es sich beim Blutbad vom Januar 1945 nicht um eine Einzelaktion handelte, sondern um ein minutiös geplantes Verbrechen, bei dem staatliche Stellen absichtsvoll kooperierten: Kurt-Walther Hanssen, Generalstaatsanwalt beim Berliner Kammergericht, Heinz Richter, Leiter der Gestapo-Leitstelle Frankfurt (Oder), sowie das Personal des Zuchthauses unter dem Befehl von Theodor Knops. Über Tage hinweg stimmten sie sich telefonisch ab. Sonnenburg wurde wie die Todesmärsche zum Inbegriff nationalsozialistischer Gewalt während der letzten Phase des Krieges.

Der vom NS-Regime in den besetzen Staaten Europas über Jahre hinweg praktizierte Terror, der ein bis dato unvorstellbares Ausmaß erreicht hat, kehrt im Frühjahr 1945 mit der geschlagenen Wehrmacht zurück nach Deutschland. Die systematische Gewalt, mit der über Jahre hinweg staatliche Strukturen und menschliches Leben in ganz Europa zerstört wurden, führt letztlich zur Selbstzerstörung des einst als tausendjährig imaginierten Reiches. Mit Sachsenhausen hatten ab 1936 die drei Jahre zuvor von über 17 Millionen Deutschen gewählten Nationalsozialisten begonnen, ihre Gegner in Lager wie dieses zu sperren. Mit dem Angriff auf Polen im September 1939 kam die geltende Rassenideologie ungezügelt zum Tragen. Die massive Bombardierung der Warschauer Innenstadt galt nicht vorrangig militärischen Zielen, sondern der Hauptstadt als Symbol der polnischen Nation. Die in Deutschland bereits zuvor begonnene Verfolgung und Entrechtung der Juden wurde im besetzten Polen durch die Errichtung von Ghettos umgehend verschärft und führte schließlich zum Holocaust. Die von Deutschland ausgehende Gewalt steigerte sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ein weiteres Mal.

Christian Stein macht in seiner Dissertation Die Rückzüge der Wehrmacht geltend, dass die Vorstellung, mit den „Endphaseverbrechen“ sei die Gewalt von Gestapo und SS nach dem Überschreiten der Grenze zum „Altreich“ kulminiert, korrigiert werden müsse. Er erinnert an den aktiven Part der Wehrmacht bei Teilschritten der Schoah, bei der Zwangsumsiedlung von Zivilisten, der systematischen Requirierung von Lebensmitteln und der Zerstörung von Infrastruktur in besetzten Gebieten. Bei einem Workshop zum 75. Jahrestag des Massenmords von Sonnenburg an der Europa-Universität Viadrina wurde denn auch darauf verwiesen, wie sehr sich das Abbrennen von Dörfern in Belarus und die Brandschatzung des Zuchthauses Sonnenburg gleichen.

Oder man denke an die massenhafte Erschießung von Geiseln in Polen als Teil der „Bandenbekämpfung“. Dieser radikale Krieg gegen mutmaßlich irreguläre Kämpfer führte dazu, systematisch Zivilisten umzubringen. Daniel Brewing schreibt in seinem Buch Im Schatten von Auschwitz, dass die Logik des Massakers als Kampf gegen den unsichtbaren Feind auch bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 zum Tragen kam. Dabei starben mindestens 150.000 Zivilisten. Haus für Haus wurde in Brand gesteckt wie zuvor beim Auslöschen von Dörfern in der Sowjetunion. Gegen Ende des Aufstandes verübten die Besatzer ein Massaker im Rakowiecka-Gefängnis. Während sie am 2. September 1944 über 600 Gefangene im Hof durch Genickschuss töteten, regte sich im zweiten Stock der Anstalt Widerstand. Nachdem sie mehrere SS-Männer überwältigt hatten, gelang über 200 Insassen die Flucht. Auf ähnlichen Widerstand stießen die Deutschen Anfang 1945 in einem Gefängnis bei Łódź. Im Angesicht des Todes suchten die Gefangenen Zuflucht auf dem Dachstuhl und setzten sich zur Wehr, woraufhin die Wachmannschaft das Gebäude in Brand setzte. Wer jetzt noch fliehen wollte, starb im MG-Feuer. Von etwa 1.500 Häftlingen überlebten nur wenige. Der Kontrollverlust in den Gefängnissen in Warschau und Łódź muss SS- und Polizeidienststellen in Brandenburg bekannt gewesen sein. Wohl auch deshalb entschieden sie sich in Sonnenburg für eine systematische Mordaktion wie anschließende Zerstörung der Haftanstalt.

In Warschau, Radogoszcz und Sonnenburg wurde deutlich, was die Täter mit Evakuierung meinten – sie wollten Menschenleben vernichten. Das Massaker von Sonnenburg und die gewaltsame Auflösung des KZ Sachsenhausen gehörten zu den letzten Akten eines Regimes, das mit diesen Exzessen zugleich seine Selbstzerstörung betrieb.

Felix Ackermann erforscht am Deutschen Historischen Institut Warschau die Geschichte der Gefängnisse in Polen

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