War doch nicht so schlimm

Debatte Im Streit über den Postkolonialisten Achille Mbembe zeigt Deutschland, wie provinziell seine Erinnerungskultur ist
Ausgabe 22/2020
Da geht’s lang. Und jeder bitte nur eine Meinung
Da geht’s lang. Und jeder bitte nur eine Meinung

Foto [M]: CBS Photo Archive/Getty Images

Der Filmemacher Can Candan reiste 1990 nach Berlin, um migrantische Perspektiven auf den Mauerfall zu dokumentieren. Im zehn Jahre später fertiggestellten Film Mauern/Duvarlar/Walls stellen einige der Interviewten Bezüge her zwischen dem grassierenden Rassismus der Wendezeit und der Situation von Juden während des Nationalsozialismus. Da heißt es: „… was aber, wenn eines Tages Haus und Kinder in Brand gesetzt werden? Wenn es tatsächlich so weitergeht, sollten wir die Ausländer dazu auffordern, Deutschland zu verlassen, weil ja damals in der Nazizeit auch die Juden nicht daran geglaubt hatten, dass man ihnen so etwas antun würde, und es für viele dann zu spät war.“

Die Debatte um Achille Mbembe und den gegen ihn erhobenen Vorwurf der Holocaust-Relativierung vor Augen, hätte man seinerzeit eigentlich entgegnen müssen: „Okay, kann sein, dass eure Häuser und Kinder brennen werden (bekanntlich haben sie kurze Zeit später gebrannt), aber ihr relativiert den Holocaust und habt außerdem keinen Begriff von Antisemitismus.“ Das klingt zynisch. Doch die Argumentation der Kritiker von Mbembe – von Ingo Elbe in der taz entfaltet – läuft in Teilen auf eine solche Antwort hinaus.

Man kann sich durchaus kritisch mit Mbembe und der postkolonialen Kritik insgesamt auseinandersetzen. Die Leerstellen dieser Denkrichtung, auf die Saba-Nur Cheema und Meron Mendel – ebenfalls in der taz – hinwiesen, lassen sich ausgehend von einem Zitat aus Mbembes Buch Politik der Feindschaft thematisieren: „Demokratie, Plantage und Kolonialreich gehören objektiv ein und derselben geschichtlichen Matrix an. Diese ursprüngliche und strukturierende Tatsache bildet den Kern jedes historischen Verständnisses der Gewalt in der heutigen Weltordnung.“

Sagbarkeitslogik

Es ist ein Verdienst Mbembes und anderer, auf die Bedeutung dieser historischen Matrix hingewiesen zu haben. Dennoch stellt sich die Frage, ob sich die gegenwärtigen Gewaltformen ausschließlich aus ihr ableiten lassen. Denn wir leben nicht nur unter postkolonialen, sondern auch unter postnazistischen Bedingungen. Da Kolonialismus und Nazismus nicht ineinander aufgehen, besteht eine Spannung zwischen Postkolonialismus und Postnazismus.

Mbembe verweist auf den Mythos der Überlegenheit der westlichen Kultur, der koloniale und nationalsozialistische Gewalt gleichermaßen fundiert habe. Dabei verkennt er eine Besonderheit des völkischen Antisemitismus, der als regressive Revolte gegen die angeblich von Juden verkörperte westliche Moderne Gestalt annahm. Zudem fällt eine Unentschiedenheit bezüglich der aktuellen Bedeutung von Antisemitismus auf: Mal schlägt Mbembe Juden den Ausgeschlossenen zu, mal deutet er an, dass andere Personengruppen ihren Platz eingenommen hätten. Dem entspricht der Blick auf die israelische Besatzungspolitik: Es mag plausibel erscheinen, dass postkoloniale Denker in der Besatzung koloniale Muster der Kontrolle ausmachen, zumal wenn sie, wie Mbembe, die Ungleichheit von Mobilitätschancen problematisieren und historisch herleiten. Schief wird das Bild vor allem dadurch, dass von Antisemitismus und Israelfeindschaft in diesem Zusammenhang gänzlich abstrahiert wird. Dies gilt auch für Mbembes Überlegungen zum islamistischen Terror.

Kurzum, das (post-)koloniale Framing von Nationalsozialismus und Holocaust führt zu einem verkürzten Blick auf Antisemitismus. Dieser wirkt sich wiederum auf die von Einseitigkeit gekennzeichnete Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern aus. Doch wer die Spannung zwischen Postkolonialismus und Postnazismus ignoriert, verengt und verkürzt die Debatte nicht nur aufseiten der postkolonialen Kritik. Um auf den Relativierungsvorwurf zurückzukommen: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, der die Debatte ins Rollen brachte, bezog sich auf eine Formulierung Mbembes, derzufolge Kolonialismus und Nationalsozialismus als „zwei emblematische Manifestationen“ eines Trennungswahns zu verstehen seien. Wenn ein solcher Allgemeinplatz, der keineswegs den Anspruch erhebt, die jeweiligen Phänomene hinreichend erklären zu können, als unsagbar gilt, ist diese Sagbarkeitslogik ihrerseits erklärungsbedürftig.

In der Tradition antikolonialen und antirassistischen Denkens seit 1945 sind Formen der Bezugnahme auf Nationalsozialismus und Holocaust durchaus verbreitet. Ingo Elbe verweist auf den afro-amerikanischen Intellektuellen W.E.B. Du Bois, der prophezeit hatte, dass die „color line“ das entscheidende Problem des 20. Jahrhunderts sein würde, und der kurz nach 1945, in den Ruinen des Warschauer Ghettos, bemerkte, dass die im Zeichen des Antisemitismus begangenen Verbrechen keineswegs mit der „color line“ zu erklären seien. Wenn nun Du Bois trotzdem den Holocaust mit kolonialen Gewaltformen in Verbindung bringt oder davon ausgeht, dass die gegen Juden mitten in Europa ausgeübten Gewaltpraktiken zuvor bereits in den Kolonien erprobt worden waren, hat man mindestens zwei Reaktionsoptionen: Man kann feststellen, dass sich ein Raum auftut, der die Möglichkeit bereithält, jeweils spezifische traumatische Gewalterfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen, bestenfalls in empathischer und solidarischer Weise. Oder man kann – wie Elbe – die Tür zuknallen und aus Du Bois eine Art Gründungsfigur der antirassistischen Holocaust-Relativierung zimmern.

Immer wieder gibt es Formen der Holocaust-Bezugnahme, bei denen man die Türen zuknallen möchte. Deutsche Städte sind derzeit voll davon. Die Alu-Bommel-Fraktion wähnt sich in der Tradition der Weißen Rose, „Wir sind die Juden“ wird skandiert. Das ist geschmacklos und ekelig. Aber die postkoloniale Bezugnahme bewegt sich in einem komplett anderen Register. Und sie verweist auf ein Aufmerksamkeits- beziehungsweise Anerkennungsproblem: Es gibt immer noch Leute, die meinen, der Kolonialismus sei gar nicht so schlimm gewesen. Es sind zum Teil dieselben, die Mbembe Holocaust-Relativierung vorwerfen. Im Übrigen sang Günter Nooke, Afrika-Beauftragter der Bundeskanzlerin, vor Kurzem ein Loblied auf den Kolonialismus. Man kann hohe Staatsämter bekleiden, für den von der Sklaverei am stärksten betroffenen Kontinent zuständig sein und trotzdem in nahezu ungebrochener kolonialer Manier daherschwätzen, ohne dass es wirklich wehtun würde.

Das in etwa ist es doch, was Mbembe zum Ausdruck bringen will, wenn er fragt, „ob die Versklavung der Neger und die kolonialen Grausamkeiten Teil des Weltgedächtnisses sind“, was insofern von Bedeutung sei, als „wir uns, solange wir nicht das Gedächtnis der ‚ganzen Welt‘ erfassen können, unmöglich vorzustellen vermögen, was eine wirklich gemeinsame Welt, eine wirklich universelle Menschheit und Menschlichkeit sein könnten“. Dazu passt, dass Klein sich nicht einmal die Mühe machte, in Mbembes Texte zu schauen, bevor er seine Anklage formulierte, sondern lediglich auf einen offenen Brief eines FDP-Politikers verwies, in dem drei Absätze aus einem Aufsatz Mbembes zitiert werden.

Claus Leggewie bezichtigte Achille Mbembe in der Berliner Zeitung, eine „missliche, ja verheerende Opferkonkurrenz provoziert“ zu haben. Man kann das Argument auch umdrehen und fragen, ob nicht die Institution des Antisemitismusbeauftragten gerade von den Betroffenen von Rassismus wohlmöglich im Sinne einer Opferkonkurrenz verstanden wird und entsprechend den Eindruck hervorruft, dass ihre Gewalterfahrungen weniger ins Gewicht fallen als die von Juden. Ist die Hervorhebung der Bedeutung von Antisemitismus im Verhältnis zu Rassismus, die in dieser Institution angelegt ist und aus der Geschichte des Holocaust beziehungsweise der Erinnerung an die Judenvernichtung im Land der Täter resultiert, noch zeitgemäß – angesichts der globalen Dimension von Erinnerungskultur und -politik sowie angesichts zunehmend gemischter Migrationsgesellschaften mit vielschichtigen Herkünften und Traumatisierungen?

Die deutsche Erinnerungskultur kennzeichnet ein Paradox: Die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust ist zu einem Kernbestand des offiziellen Selbstverständnisses der Berliner Republik avanciert – ein Effekt jahrzehntelanger erinnerungspolitischer Kämpfe, die sich gegen das Verschweigen, das Verdrängen und apologetische Tendenzen richteten. Klein brachte dieses Selbstverständnis auf den Punkt, als er seine Kritik an Mbembe im Deutschlandfunk Kultur verteidigte: „Der Holocaust und die Auseinandersetzung damit gehören zur deutschen Identität.“ Doch die Mainstreamisierung des Holocaust-Gedenkens hat ihren Preis. Deutschland hat sich den Status des Erinnerungsweltmeisters erarbeitet, kann mit der identitätspolitischen Aufladung der Holocaust-Erinnerung im Sinne einer nationalen Selbstvergewisserung Weltgeltung beanspruchen, zumal in einer Zeit, in der Erinnerungsbereitschaft und -praxis als symbolisches Kapital fungieren, das im globalen Wettbewerb im Sinne der Standortlogik akkumuliert wird. Angesichts dieser Entwicklung haben einige Holocaust-Forscher vor ein paar Jahren – noch vor dem Aufstieg der AfD und dem völkischen Angriff auf die Erinnerungskultur – von einem Unbehagen an der Erinnerung gesprochen.

Superlative: hinderlich

Gerade aufgrund der deutschen Befindlichkeiten erweist sich die deutsche Erinnerungskultur zugleich als hochgradig provinziell. So ähnlich drückte das am Wochenende auch Stephan Detjen im Deutschlandfunk aus. Übersehen wird, dass für viele Menschen vor allem im globalen Süden der Kolonialismus die zentrale traumatische Erfahrung darstellt. In der auf die Holocaust-Erinnerung bezogenen nationalen Erzählung finden Erinnerungen an andere Gewaltverbrechen kaum Platz. Und wenn sie diesen einfordern, steht ihnen die deutsche Identität beziehungsweise der Versuch ihrer Rekonfiguration im Zeichen von Auschwitz im Weg. Aus dieser Einsicht folgt keineswegs zwangsläufig, die fundamentale Bedeutung des Holocaust für Deutschland zu nivellieren. Vielmehr käme es darauf an, den provinziellen Charakter der Erinnerung und die damit einhergehenden Ausschlüsse selbstkritisch zu reflektieren.

Die Spannung zwischen Postkolonialismus und Postnazismus lässt sich nicht einfach auflösen. Aber sie könnte produktiv genutzt werden. Superlative – Mbembe bezeichnet die israelische Besatzung als „größten moralischen Skandal unserer Zeit“ – sind dabei ebenso wenig hilfreich wie das gleichermaßen provinzielle wie weltgeltende Gebaren deutscher Bundesbeauftragter.

Deutsches Problem?

Zur Ruhrtriennale 2020 war der aus Kamerun stammende Postkolonialismus-Forscher Achille Mbembe (Kritik der schwarzen Vernunft, dt. 2014) als Eröffnungsredner geladen. Nach einem Hinweis auf potenziell antisemitische Aussagen sowie der Unterstützung der Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) durch Mbembe, betrieb der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, die Ausladung Mbembes. Grundlage hierfür bildet die Verurteilung der Argumentationsmuster und Methoden des BDS im Mai 2019 durch eine Mehrheit des Bundestags als antisemitisch.

Die heftig geführte Debatte (der Freitag 21/2020) dreht sich auch um eine spezifisch deutsche Erinnerungskultur und um blinde Flecken der Kritik an Israels Politik vonseiten postkolonialer Denkerinnen und Denker. In mehreren offenen Briefen forderten Intellektuelle die Absetzung Kleins (siehe der Freitag 19/2020). Auch eine Petition zu dessen Verbleib im Amt wurde versandt.

Felix Axster ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin

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