Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz muss zur Kenntnis nehmen, dass sich die EU auf eine Kraftprobe mit Russland eingelassen hat, aus der es momentan keinen diplomatischen Ausweg gibt. Düstere Vorahnungen liegen über Europa – die Zeichen deuten längst nicht mehr auf Koexistenz und Kooperation. Der Ukraine-Konflikt droht die postpolare Ordnung eines ganzen Kontinents aus den Angeln zu heben.
Sicherheitskonferenz
Zum 51. Mal treffen sich am Wochenende Staatschefs, Außen- und Verteidigungsminister in München. Ihre Agenda: der islamistische Vormarsch im Nahen Osten und in Afrika, der ukrainische Bürgerkrieg sowie das zerrüttete Verhältnis zwischen Europäischer Union und Russland. Unsere Analysen und Lösungsansätze
„Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen“, hatten am 21. November 1990 34 Staats- und Regierungschefs aus Europa und Nordamerika in der „Charta von Paris“ erklärt. Der symbolische Schlussstrich unter den Kalten Krieg rückte das Ziel eines gemeinsamen Europäischen Hauses in greifbare Nähe – ein Begriff, der auf den sowjetische Präsidenten Michail Gorbatschow zurückging. 25 Jahre später wird in der Südostukraine gekämpft, und die Pariser Erklärung wirkt wie ein illusionärer Trugschluss . Oder auch – eine verfehlte Prognose. Wenn die Geschichte eines lehrt, dann dass die Zukunft notorisch unvorhersehbar bleibt, und Prognosen fast immer falsch sind. Dennoch müssen heutige Entscheidungen in der Politik auf Annahmen über die Zukunft basieren. Die Alternative zu Prognosen heißt: Szenarien, die keine Vorhersagen sind, sondern Aussagen darüber treffen, wie die Zukunft sein könnte – nicht darüber, wie sie sein wird. Sie geben der Politik einen Eindruck davon, welche Konsequenzen heutige Entscheidungen möglicherweise haben.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat über den Sommer 2014 20 Experten für die EU und ihre „Östliche Partnerschaft“ (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, die Ukraine und Belarus) eingeladen, gemeinsam Szenarien für die Zukunft Europas im Jahr 2030 zu entwickeln. Die Teilnehmer kamen aus zwölf Ländern, darunter Russland und die Ukraine. Drei Treffen in Berlin, Moskau und Brüssel waren nötig, damit alle 20 Experten – Wissenschaftler und Praktiker aus Ministerien und Parlamenten – sich auf die hier kurz zusammengefassten Szenarien einigen konnten. Als Leitbild wurde das Europäische Haus gewählt: Wie könnte es 2030 aussehen? Und wodurch könnte es dann so aussehen? Die Szenarien sollen Anregungen geben für eine Debatte über die Optionen deutscher und europäischer Ostpolitik – 40 Jahre nach der KSZE-Schlussakte von Helsinki und 25 Jahre nach der „Charta von Paris“.
1 Mietskaserne
Notgedrungen leben alle Europäer in einem Haus
2030 sind die Beziehungen zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarn pragmatisch. Das heißt, alle Staaten gehören zu einer Freihandelszone. Die zwischen Russland und der EU umstrittenen Länder sind nicht länger gezwungen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.
Entwicklungen bis 2030: Der 2014 ausgebrochene Konflikt zwischen der EU und Russland kann nicht gelöst, aber eingefroren werden: Die Krim bleibt russisch, während es Kiew gelingt, seine nominelle Souveränität über die Rest-Ukraine wieder herzustellen. Russland und die EU beäugen sich zunächst weiter misstrauisch, Sanktionen bleiben in Kraft.
Die Zeit bis 2024 gilt für ganz Europa als „verlorenes Jahrzehnt“: In der EU stagniert das Wirtschaftswachstum. Linke Parteien und rechte Populisten gewinnen in vielen Mitgliedsstaaten an Einfluss. Sie verhindern Reformen und eine weitergehende Integration. Nach außen redet die EU nur sehr selten mit einer Stimme.
Russland will weiter Großmacht sein. Es gewinnt Nachbarstaaten durch Subventionen für die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU). Der Militäretat bleibt hoch, die Wirtschaft schwach. Die Einnahmen aus Rohstoffexporten reichen, um den sozialen Frieden zu wahren. In der politischen Elite reift zum Jahr 2024 die Entscheidung, einen Wandel herbeizuführen: Der Präsident wird durch einen Reformer aus dem engeren Machtzirkel ersetzt. Eine investitions- und EU-freundliche Politik folgt.
Moskaus vorsichtige Signale an die EU werden dort verstanden: Brüssel will die Chance auf einen Wachstumsimpuls nach den „verlorenen Jahren“ nicht verpassen. Nach langen Verhandlungen gelingt es, ein Freihandelsabkommen abzuschließen, über das sich Russland, die EU und die sechs Staaten der „Östlichen Partnerschaft“ einigen.
2 Einfamilienhaus
Das Europäische Haus ist Realität
2030 tritt die sechs Jahre zuvor demokratisch gewählte Präsidentin Russlands ihre zweite Amtszeit an. Sie vereinbart den visafreien Reiseverkehr mit der EU und den Staaten der „Östlichen Partnerschaft“.
Entwicklungen bis 2030: Friedensgespräche setzen der Gewalt in der Ukraine ein Ende, sodass Sanktionen schrittweise aufgehoben werden. Trotzdem beginnt in Russland ein ökonomischer Niedergang, der vor allem durch den kontinuierlich niedrigen Weltmarktpreis für Öl, die Vertrauenskrise in den Beziehungen zur EU sowie mangelnde Reformen bedingt ist. Die prekäre Wirtschaftslage führt nach 2018 zu massiven Protesten. Schließlich willigt der Präsident in Gespräche am runden Tisch mit der Opposition ein. Faire Parlamentswahlen finden statt. Russlands politische Landschaft ändert sich grundlegend. Eine populäre Oppositionsführerin wird 2024 zur Präsidentin gewählt und beginnt Wirtschaftsreformen.
Der Wandel in Russland schafft Voraussetzungen für eine engere Kooperation mit der EU: Moskau hofft auf Investitionen und gibt seinen Widerstand gegen einen EU-Beitritt ehemaliger Sowjetrepubliken auf. In einer Kommission für Außen- und Sicherheitspolitik werden die Probleme der ungelösten Territorialkonflikte in der Ukraine, Moldawien und im Südkaukasus konstruktiv und auf der Basis von allseitig anerkannten Normen erörtert. Gemeinsame Herausforderungen wie der internationale Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder der Aufstieg Chinas werden zwischen Lissabon und Wladiwostok als solche erkannt und schweißen die Staaten zusammen. In der Abschaffung des Visa-Zwangs 2030 findet dies seinen sichtbarsten Ausdruck.
3 Ruine
Das Europäische Haus liegt in Trümmern
2030 ist Europa erneut geteilt: Die Länder der einstigen „Östlichen Partnerschaft“ sind zum Objekt einer anhaltenden Konfrontation zwischen der EU und Russland geworden. Entlang einer Trennlinie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ist eine Zone der Instabilität entstanden.
Entwicklungen bis 2030: Die Ukraine-Krise eskaliert: Da fortgesetzte Kampfhandlungen in der Südostukraine keinen Sieger finden, beginnt die NATO mit Waffenlieferungen an Kiew. Zwischen der westlichen Allianz und Russland kommt es zu einem neuen Rüstungswettlauf. Parallel entflechten sich Russland und die Europäische Union wirtschaftlich: Moskau setzt auf einen Kurs der Modernisierung seiner Wirtschaft – und ist damit erfolgreich. Profitiert wird dabei vom sprunghaften Anstieg chinesischer Investitionen. Russland liefert nicht nur Rohstoffe, sondern in wachsendem Maße auch Agrarprodukte für den Bedarf der chinesischen Mittelklasse. In der EU wiederum gelingt die Energiewende: Die Bedeutung von fossilen Energieträgern sinkt dramatisch, man ist nicht mehr auf russische Importe angewiesen. Weil die wechselseitige Abhängigkeit damit auf ein Minimum reduziert wird, gibt es immer weniger Anreize, die Konfrontationen zu überwinden.
Unter den Spannungen zwischen der EU und Russland leiden besonders die Staaten der „Östlichen Partnerschaft“, die politisch instabil und wirtschaftlich schwach sind. Die Ukraine bleibt geteilt. Die Regierung in Kiew hat die Kontrolle über weite Teile des Landes eingebüßt.
4 Reihenhaus
Die Europäer leben Tür an Tür, aber getrennt
2030 bleiben die EU und Russland wirtschaftlich aufeinander angewiesen, aber das Misstrauen wächst trotzdem. Die Staaten der „Östlichen Partnerschaft“ bleiben der Integrationskonkurrenz zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion ausgesetzt. Europa fällt weit hinter die neuen globalen Machtzentren in Asien und Amerika zurück.
Entwicklungen bis 2030: Der EU gelingt es nicht, in der Ukraine-Frage eine abgestimmte Position gegenüber Russland einzunehmen. Eine Lösung wird nicht gefunden, Teile des Territoriums entgleiten dauerhaft der Kiewer Kontrolle. Die EU verliert in der Folge nicht allein in der Ukraine, sondern auch in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion deutlich an Attraktivität.
Europa bleibt im Krisenmodus. Das gilt sowohl für die Außen- und Sicherheitspolitik als auch für die Wirtschaft, in der keine entscheidenden Reformen mehr gelingen. In der Ukraine wird die Umsetzung des Assoziierungsabkommens mit der EU verzögert, was zu erneuten Maidan-Protesten führt. Bescheidene Erfolge bei der EU-Assoziierung Georgiens und Moldawiens haben aufgrund von Handelskonflikten mit Russland keinen Bestand, das sein Projekt der Eurasischen Wirtschaftsunion verfolgt. In der EU stagniert die Energiewende, die Mitgliedsstaaten führen weiter russische Brennstoffe ein. Die ausbleibende Diversifizierung der russischen Ökonomie sorgt dafür, dass die wechselseitige Abhängigkeit hoch bleibt. Eine Eskalation des latenten Konflikts zwischen der Europäischen Union und Russland wird dadurch verhindert. Wirtschaftliche Stagnation in Russland wird von der Moskauer Führung mit einer konservativen Wertepolitik beantwortet: Die Gesellschaft soll gegen schädliche westliche Einflüsse und „Konsumkultur“ immunisiert werden.
Die weltpolitischen Gewichte verschieben sich: Die Vereinigten Staaten wenden sich bis 2030 von Europa ab und dauerhaft Asien zu. Das kriselnde Europa ist nun wirklich der „alte Kontinent“.
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