Eine Schufa für das Leben

Überwachung Chinas Regierung will die Online-Bewertungen aller Bürger zur Grundlage für Bestrafung und Belohnung machen
Ausgabe 21/2016
Das gibt Minuspunkte: im Taxi zum Shopping
Das gibt Minuspunkte: im Taxi zum Shopping

Foto: Kevin Frayer/Getty Images

Wer bei Ebay einkauft, für den ist es völlig normal, seine Zahlungsmoral hernach bewerten zu lassen. Und umgekehrt können Ebay-Käufer Sterne verteilen, wenn der Anbieter das einhält, was er verspricht. Banken prüfen bei der Kreditvergabe sehr genau, ob ihr potenzieller Kunde finanziell abgesichert ist. Was aber die chinesische Regierung derzeit vorbereitet, geht einen gewaltigen Schritt weiter.

Sie erwägt, künftig das Nutzerverhalten ihrer Bürger im Internet nicht nur genau zu erfassen, sondern es auch begutachten zu lassen. Nutzer, die über das Internet etwa gesunde Babynahrung oder Bücher kommunistischer Staatsführer bestellen, sollen Pluspunkte erhalten, Gleiches gilt für Bestellungen von umweltfreundlichem Papier oder Gemüse aus dem Umland. Wer sich hingegen Sex-Videos im Netz ansieht oder zu viele modische Kleidungsstücke bestellt, muss mit Minuspunkten rechnen. Vor einem Jahr hatte Chinas Regierung die Einführung eines „Social Credit System“ angekündigt, eine Art Schufa für so gut wie alle Belange des gesellschaftlichen Lebens. In der chinesischen Online-Community ist seitdem von „Citizen Scoring“ die Rede.

Noch sind es Überlegungen. Doch den Entwürfen zufolge sollen nach einem bestimmten Punktesystem nicht nur das Kaufverhalten und die Zahlungsmoral bewertet werden. China will das gesamte Verhalten seiner Bürger in den sozialen Netzwerken erfassen und dafür Punkte vergeben. Verkehrsdelikte oder Steuersünden sollen in die Bewertung mit einfließen.

Vorgesehen ist, dass Nutzer mit einer hohen Punktzahl, die diesen Wert auch halten können, vergünstigte Kredite oder Gutscheine für Auslandsreisen erhalten. Wer hingegen konstant niedrig bewertet wird, muss sogar damit rechnen, seinen Job zu verlieren. Über eine Smartphone-App kann sich jeder über den eigenen Punktestand informieren. Nicht nur Behörden, Banken und Einkaufsplattformen sollen Einsicht erhalten, sondern auch Unternehmen und sogar Reiseveranstalter sowie Fluggesellschaften.

Pionier Alibaba

Schon jetzt können chinesische Bürger ihr Nutzerverhalten im Internet bewerten lassen. Acht chinesische Online-Dienste erproben in Pilotprojekten unterschiedliche Bewertungssysteme. Derzeit am weitesten verbreitet ist der Dienst von „Sesame Credit“, hinter dem Chinas größter Online-Konzern Alibaba steht. Mit seiner Handelsplattform Taobao hat Alibaba bereits jede Menge Daten von insgesamt nahezu einer halben Milliarde Nutzer gesammelt.

„Wer zehn Stunden am Tag vor dem Rechner sitzt und Videospiele spielt, dürfte nicht gerade sehr agil sein“, wird Li Yingyun von Sesame Credit in dem chinesischen Wirtschaftsmagazin Caixin zitiert. Wer hingegen häufig Biogemüse online bestelle, zeige Verantwortung und Gesundheitsbewusstsein. Unter anderem in Zusammenarbeit mit Chinas größter Dating-Webseite Baihe will Alibaba die Nutzer ermutigen, ihre Bewertungen nicht nur mit ihren Freunden und Bekannten zu teilen, sondern sie offen für alle auf ihrem Online-Profil anzugeben.

Bislang ist die Teilnahme freiwillig. Doch den Plänen zufolge könnte es schon 2020 zur Pflicht für jeden chinesischen Staatsbürger werden, sich mit seiner Personalausweisnummer für eines dieser Punktesysteme registrieren zu lassen. Tencent, der Betreiber des in China sehr weit verbreiteten Kurznachrichtendienstes Weixin (WeChat), testet ebenfalls ein Bewertungssystem, das das Verhalten seiner Nutzer bewertet. Schon jetzt muss jeder Weixin-Nutzer in China seine wahre Identität angeben, wenn er in sozialen Netzwerken postet und kommentiert. Auf Geheiß der chinesischen Führung durchleuchtet Tencent auch immer wieder die Einträge der Nutzer und lässt dann politisch Heikles löschen. Wer häufig regierungskritische Kommentare verfasst, soll neben der ohnehin drohenden politischen Repression via Citizen Scoring künftig Minuspunkte erhalten, die dann für alle einsehbar sind.

Die Idee von Citizen Scoring ist in China keineswegs neu. Schon seit einigen Jahren ist die chinesische Führung dabei, ein System zu entwickeln, das das Verhalten ihrer Bürger bewertet und öffentlich macht. Ausgangspunkt waren zahlreiche Berichte über das rüpelhafte Verhalten vieler chinesischer Touristen insbesondere im Ausland. Seitdem sich immer mehr Chinesen Fernreisen leisten können, häufen sich auf der ganzen Welt die Klagen über das Benehmen mancher Touristen. Sie drängeln, unterhalten sich sehr laut und schreien in ihre Smartphones. Beim Trinkgeld knausern sie, lassen in Hotels Besteck und Handtücher mitgehen. Obwohl sie als kaufkräftig gelten, haben in Frankreich einige Pensionen die Aufnahme von Reisegruppen verweigert. Auch in Asien häufen sich die Klagen: Als die Stewardess einer thailändischen Fluggesellschaft im vergangenen Jahr nicht gleich parierte, wie es der chinesische Fluggast wollte, kippte er heißes Wasser über sie. Zunehmend klagen Fluggesellschaften über handgreifliche Auseinandersetzungen mit chinesischen Reisenden.

Rüpel auf Reisen

Die Staatsführung versucht gegenzusteuern. Vor zwei Jahren hatte sie ein Gesetz verabschiedet, das schlechtes Benehmen von Touristen im Ausland unter Strafe stellt. Chinesische Reisende, die mehrfach unangenehm im Ausland auffallen, landen seitdem auf schwarzen Listen und erhalten Reiseverbot.

Die chinesische Führung wirbt für ihr Vorhaben mit der Begründung, dass ebenso Firmen bewertet würden und die Ergebnisse für jeden dann öffentlich einsehbar seien. Nach diversen Milchpulver- und Gammelfleischskandalen begegnen viele Bürger in China vor allem der Lebensmittelindustrie mit Misstrauen.

Citizen Scoring jedoch gehe weit über Maßnahmen für höflichere Bürger im Ausland und eine bessere Unternehmensmoral hinaus, kritisiert der chinesische Netzaktivist Wang Bo. Sei erst einmal das Verhalten von jedem Bürger im Internet erfasst, sei es zum gläsernen Menschen nicht mehr weit. Bo befürchtet „eine totale Überwachung“.

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