Patrick Reichelt ist guter Dinge. „Jetzt greifen wir richtig an“, schwärmt er mit Gedanken an die Partien bei diesem Abenteuer, das sich derzeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten zuträgt. Das war nach dem ersten Spiel gegen den Turnierfavoriten Südkorea. Inzwischen sieht die Sache etwas anders aus. Seine Mannschaft, die philippinische Fußball-Nationalmannschaft, hat ihr zweites Spiel gegen China 0:3 verloren und trifft am 16. Januar auf Kirgistan. Damit hat das Team zwar die zweite Runde des Asien-Cups verpasst. Aber, tröstet sich der 30-jährige Patrick Reichelt aus dem Süden Berlins, "mit der Qualifikation haben wir schon Geschichte geschrieben". Geschichte geschrieben für sein Land.
„Meine Mutter kommt aus Cebu, einer Stadt im
utter kommt aus Cebu, einer Stadt im Osten des Landes“, erklärt Reichelt, ein großer Typ mit dunklen Augen und Berliner Slang in der Stimme. Das Fußballspielen lernte er beim Berlin-Neuköllner Stadtteilklub TSV Rudow, als Jungerwachsener stand Reichelt bei der zweiten Mannschaft von Energie Cottbus unter Vertrag, wo er plötzlich mit einem Zettel im Postfach zu einer zunächst obskuren Auswahl eingeladen wurde. „Mir war damals gar nicht klar, dass in den Philippinen Fußball gespielt wird.“ Aber Reichelt flog hin. Und kam fortan nur noch zum Urlaub zurück nach Berlin. Seit sechs Jahren lebt Patrick Reichelt in Südostasien und ist dort das, was er in Deutschland wohl nicht mehr geworden wäre und sich auf jenem Erdteil nie erträumt hatte: Nationalspieler und Fußballstar. Auch dank ihm erlebt das Land, das zwar fast 110 Millionen Einwohner hat, bis heute aber kaum gute Fußballer produziert, einen Hype. Binnen 13 Jahren sind die Philippinen in der Weltrangliste der FIFA um fast 80 Plätze auf derzeit Rang 116 geklettert. Denn hier, wo die beliebtesten Sportarten wegen der langen Herrschaft der USA Basketball oder Boxen sind, gibt es noch viel mehr Spieler mit einem Werdegang, der dem von Patrick Reichelt ähnelt. Die Philippinen haben derzeit die wohl internationalste Nationalmannschaft der Welt.Die halbe Startelf wurde in Deutschland ausgebildet. Neben dem Berliner Reichelt ist da etwa der Hamburger Kevin Ingreso, der zuvor im Profikader des HSV stand. Oder Stefan Schröck aus Schweinfurt, der jahrelang für Eintracht Frankfurt auflief. Seit Kurzem zählt auch John-Patrick Strauß aus Wetzlar zum Kader, der sonst beim FC Erzgebirge Aue in der 2. Liga spielt. Dann sind da noch die Brüder Manuel und Mike Ott, gebürtige Münchner, die beide den Nachwuchs des TSV 1860 durchliefen. Weitere Spieler des Kaders kommen aus England, Spanien, der Schweiz oder Japan.Straßenhund auf Tagalog„Auf uns ruhen große Erwartungen“, sagt Reichelt. „Der Verband will, dass wir in die Top 100 der Weltrangliste aufsteigen.“ Für die WM 2022 in Katar träumt man schon von der Qualifikation. Das wäre undenkbar ohne jene Spieler, die in den Philippinen mal scherzhaft und mal abschätzig Ausländer genannt werden. Es sind die Kinder von Arbeitsmigranten, die ihr Land seit Jahrzehnten durch Unterstützung der Regierung millionenfach verlassen, um anderswo als Pfleger, Entertainer oder Sekretäre zu arbeiten, um die Heimat zu unterstützen.Solche Schritte sind zunächst eine Flucht nach vorne. Trotz hoher Wachstumsraten ist der inländische Arbeitsmarkt der Philippinen zu schwach und informell, als dass er der wachsenden Bevölkerung genügend Einkommensmöglichkeiten böte. Die Regierung unterhält deshalb die nationale Auslandsarbeitsbehörde (Philippine Overseas Employment Administration), bei der sich auswanderungswillige Filipinos registrieren und vermitteln lassen können, um anschließend in reicheren Ländern wie Japan, Saudi-Arabien, den USA oder Ländern der Europäischen Union für bei der einheimischen Bevölkerung unbeliebte Jobs anzuheuern.Die Regierung unterstützt die Massenauswanderung auch deshalb, weil die Diaspora von ihren relativ höheren Einkommen im Ausland einen Teil in die Heimat schickt und damit kollektiv jedes Jahr ungefähr zehn Prozent zur philippinischen Volkswirtschaft beisteuert. Viele der Auswanderer, die in den Philippinen längst als Helden gefeiert werden, kehren irgendwann zurück. Diejenigen, die in der Ferne Wurzeln schlagen und Nachwuchs zeugen, bereiten ihrem Heimatland in wachsenden Zahlen weitere Früchte: Talente, die in Fußballnationen ausgebildet wurden.Vor gut zehn Jahren kam der Verband auf die Idee, diesen globalen Talentepool anzuzapfen, damit durch ausländischen Einfluss neben dem Lebensstandard auch das fußballerische Niveau steigen würde. Als den Strippenziehern das Potenzial klar wurde, stellte man mit dem Geld privater Spender ein Team von Scouts zusammen, die weltweit passende Fußballer ausfindig machen sollten. Man suchte über die philippinischen Gemeinden im Ausland, in diversen Vereinsnetzwerken und über Facebook. Die Standardnachricht an jene Spieler, die ins Fadenkreuz der Späher geraten waren, enthielt auch schon gleich eine Einladung zum nächsten Länderspiel, mit der dringenden Bitte, Nachweise über die philippinische Staatsangehörigkeit eines Elternteils mitzubringen. So wuchs nach und nach ein Kader zusammen, der von allen Erdteilen kommt.Nicht jeder Eingeladene sagt auch zu. Gern hätte man David Alaba zum Filipino gemacht, der eine philippinische Mutter hat. Aber der Abwehrspieler von Bayern München entschied sich, für Österreich zu spielen, wo er aufgewachsen ist. Auch Alphonse Areola, Torwart von Paris Saint-Germain, lehnte dankend ab. Der Sohn philippinischer Eltern wurde im Sommer Weltmeister mit Frankreich. Die Liste von Spielern, für die so ein Schritt schon aus Karrieregründen nicht denkbar war, ist länger. „Die richtigen Hochkaräter sind für uns noch immer außer Reichweite“, sagt der Mittelfeldspieler Manuel Ott. „Aber im Moment haben wir trotzdem den stärksten Kader unserer Geschichte.“ Der 26-jährige Münchner, der 2012 zum ersten Mal zum philippinischen Verband stieß, erinnert sich noch an viel magerere Jahre. „Am Anfang spielten wir noch viel wilder als heute. Ich kam aus Ingolstadt und musste mich erst mal spielerisch umstellen. Das Spiel in Asien ist weniger organisiert. Man muss dadurch viel mehr rennen.“ Heute sei das auch deshalb anders, weil die Truppe zum Großteil aus europäisch ausgebildeten Spielern bestehe. Gegen Mannschaften wie Taiwan und Indonesien war man einst Underdog, heute gilt man als Favorit.Und die Öffentlichkeit nimmt Anteil daran. Während vor einigen Jahren noch fast jeder, der in einer höheren Liga Europas kickte und einen philippinischen Elternteil hatte, auch ohne genauere Sichtung zum ersten Länderspiel nominiert wurde, schwärmen nationale Medien mittlerweile von einer nie da gewesenen Auswahl. Allmählich sind nämlich auch die europäischen Klubs häufiger bereit, ihre Spieler für Turniere im fußballerisch wenig angesehenen Asien freizugeben. Immer seltener mosern die Vereine, dass man sich doch nur die Knochen kaputttreten ließe, wie es dem Spielmacher Stephan Schröck vor einigen Jahren noch bei Eintracht Frankfurt vorgeworfen wurde.Sie wären neue HeldenEine andere Art der Anteilnahme am Erfolg der philippinischen Nationalmannschaft, die sich den Namen Azkals gegeben hat – was auf der im Land am weitesten verbreiteten Sprache Tagalog „Straßenhund“ bedeutet und auf die gemischte Herkunft der Spieler anspielt – ist Misstrauen. Im Fernsehen und in Zeitungsartikeln ist es kaum noch Thema, aber auf den Stadionrängen ist es weiterhin lautstark zu vernehmen. „Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, alle Filipinos wären mit unserer Kaderplanung einverstanden“, sagt Dan Palami, der Teammanager und wichtigste Investor der Auswahlmannschaft. „Nach wie vor gibt es die Stimmen, die nur Spieler wollen, die in den Philippinen aufgewachsen sind.“ Die „Ausländer“ seien eben keine richtigen Landsmänner, die Nationalmannschaft zu international. „Ohne sie wären unsere Erfolge aber unmöglich“, sagt Palami.Und bei allem Trotz gegenüber Borniertheit versucht man die Kritiker zugleich zu befrieden. Während mehrere jüngere Spieler bei europäischen Klubs unter Vertrag stehen, wurden die Routiniers schon zu Vereinen in den Philippinen gelotst. Patrick Reichelt, Stephan Schröck, Kevin Ingreso und die Ott-Brüder spielen etwa mittlerweile gemeinsam beim Erstligisten Ceres Negros. „Wir wohnen alle in derselben Nachbarschaft in Manila“, erzählt Manuel Ott und klingt zufrieden. „Wir sind hier jetzt zu Hause.“Damit sei der Kern der Mannschaft mittlerweile auch besser eingespielt als die Auswahlen der meisten Länder. Beim Asien-Cup könnte dies der Truppe noch zugutekommen. Ein weiterer möglicher Vorteil sitzt auf der Trainerbank. Anfang letzten Jahres unterschrieb der Schwede Sven-Göran Eriksson, der 2006 England zur WM führte und zuvor zahlreiche Topklubs trainierte, beim philippinischen Verband. Die Spieler sollen begeistert sein von Erikssons taktischen Kenntnissen und dessen Menschenführung. Und es fällt auf: Die Truppe kassiert mittlerweile weniger Gegentore und spielt weniger kräftezehrend.Ist ein Einzug ins Achtelfinale des Asien-Cups damit nicht schon Pflicht? Der Berliner Patrick Reichelt will nicht widersprechen. „Aber wir haben eigentlich viel mehr vor.“ Man will sich in die Herzen derer spielen, die Vorbehalte gegen die von Mischlingen bespickten Azkals haben. Auch um sich zum Land zu bekennen, sind viele der Spieler hergezogen. „Die Leute, die noch zweifeln, müssen wir durch Erfolge überzeugen“, glaubt Reichelt. Da sei der Asien-Cup ein wichtiger Schritt. Schneidet man gut ab, könnte man am Ende schon in den Top 100 der Welt stehen. Dann wären vielleicht nicht nur die schuftenden und sparenden Auslandsarbeiter philippinische Helden, sondern auch deren Söhne, die das Land endlich scheinen lassen.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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