Yasuko lächelt

Jazz Der Pianist Ryo Fukui starb 2016 praktisch unbekannt. Dann machte das Netz ihn zum Star. In einer Bar in Sapporo lebt sein Erbe weiter
Ausgabe 05/2019

Als Nächstes kommt ein Lied von Ryo“, sagt der Mann in den Schlabberjeans, die Akustikgitarre auf dem Schoß, mit gedämpfter Stimme: „Es heißt Voyage.“ Betreten schaut er nach links zu seinem ähnlich leger gekleideten Kollegen am Bass. Sie nicken sich zu, an den Tischen nicken ein paar Zuschauer mit. Die Akkorde, die jetzt kommen, scheinen sie hier alle zu kennen. Die Frau hinterm Tresen, schlank, langes schwarzes Haar und schmale Brille auf der Nase, blickt zu Boden, lächelt milde, als wüsste sie etwas, das nur sie wissen kann. „Entschuldigung“, fragt sie einen Moment später über die Theke, „was wollten Sie noch trinken?“

Yasuko Fukui verwaltet von dieser Bar in Sapporo aus das Erbe ihres Mannes. Ryo, dessen Komposition gerade in abgewandelter Form erklingt, starb vor drei Jahren und ist doch allgegenwärtig. Wöchentlich spielte er hier im „Slowboat“, saß in der Ecke neben dem Tresen am Piano. Geblieben ist Yasuko, die heute wie damals hinterm Tresen steht. Auch geblieben sind die Treuergebenen, die jeden Abend kommen, um zuzuhören oder selbst zu musizieren.

Das Stück, eigentlich eine langsame Solojazzkomposition für Klavier, wird jetzt zu einem lockeren Bossa Nova. Ein älterer Herr wippt mit dem Bein, eine Dame klatscht lautlos im Takt. Applaus, Verbeugen, Danksagung in Bescheidenheit. Dann das nächste Lied. „In Ryos Stücken steckt so viel drin“, wird Ryoichi Tobisawa, der Gitarrist, später sagen und an den Tresen gelehnt in die Ecke schielen, wo ein sperriger, an diesem Abend unberührter Flügel steht. Und Yasuko Fukui wird mithören, wieder nur vorsichtig lächeln. Und der Besucher fragt sich: Ist diese enge, dunkle Bar, deren Wände lauter Bilder und Poster schmücken, die an vergangene Jahre erinnern, nicht ein sehr trauriger Ort, oder doch eher ein ermutigender? Oder beides?

Im Slowboat, im vierten Stock eines vielseitig genutzten Hochhauses in der Innenstadt von Sapporo, liegen Trauer und Mut heute nah beieinander. Vielleicht sind sie hier sogar dasselbe, mittlerweile. „Trinken Sie gern nihonshuu?“, fragt Yasuko Fukui. Sie reicht eine kleine Tasse mit dem japanischem Reisschnaps rüber, eingeschenkt aus einer großen Flasche. „Das hier war Ryos Lieblingstropfen“, sagt sie. Den hat er oft nach seinen Auftritten getrunken.“ Auch Yasuko Fukui schielt rüber in die Ecke zum Flügel rechts von der Theke. „Manchmal kommen ausländische Gäste, nur um Ryos Schaffensort zu besuchen.“ Dann schenke sie immer diesen leichten, bittersüßen Schnaps aus.

Verspielter, zweifelnder Sound

Ryo Fukui war zu Lebzeiten vor allem hier in Japan bekannt, auf der dünn besiedelten Nordinsel Hokkaidō, deren Hauptstadt Sapporo ist. Knapp drei Jahre nach seinem Tod dürfte es in ganz Japan keinen bekannteren Jazzkomponisten und -musiker geben. Selbst hat der Pianist, der mit 67 Jahren an Krebs starb, seinen Aufstieg nicht mehr erlebt. „Mach mit der Musik weiter“, trug er seiner Ehefrau Yasuko als letzte Bitte auf. Und sie, die selbst nie ein Instrument gelernt hatte, fasste daraus eine neue Lebensaufgabe: den verspielten und zweifelnden, aber zuversichtlichen Sound, der ihren Ryo ausmachte, in die Welt zu tragen.

So führt Yasuko seit dem Tod ihres Mannes nicht nur das Slowboat allein weiter. In einer langen Nacht am Tresen trieb sie bei einem gut betuchten Stammkunden auch Geld ein, um einen kleinen Musikverlag zu gründen. Das Budget des neuen Slowboat Labels reicht pro Jahr für eine Platte, zwei CDs sind schon in Japan erschienen.

Dass Ryo Fukuis Fangemeinde sich auf dem Globus ausbreitet, liegt aber vor allem an der Onlineplattform Youtube, deren Algorithmen den Nutzern passend zu ihren Suchanfragen Empfehlungen machen. Ein Sammler lud dort kurz nach Fukuis Tod alle seine fünf Platten hoch, und eine nach der anderen wird zum Hit. Fukuis langsames Soloalbum My Favorite Tune, das er 1995 aufnahm und auf dem sich auch das Stück Voyage befindet, ging Ende 2017 online. Seither wurde es über 1,2 Millionen Mal gehört. Sein Debütalbum Scenery von 1976, in Triobesetzung mit Kontrabass und Schlagzeug, tauchte kurz nach Fukuis Tod 2016 im Internet auf und zählt nun weit über sieben Millionen Hörer.

Verglichen mit Popstars wie Justin Bieber und Nicki Minaj, die mit Tophits auf mehr als eine Milliarde Klicks kommen, sind das kleine Zahlen. Aber in seinem Genre kann sich Ryo Fukui auf Youtube mit den großen Namen messen. Miles Davis’ Album Kind of Blue, das schon unmittelbar nach seiner Veröffentlichung 1959 als wegweisend galt, wurde gut 900.000-mal gehört. Die ähnlich einflussreiche Platte My Favorite Things von John Coltrane knapp neun Millionen Mal. Im Gegensatz zu Fukui waren Coltrane und Davis schon zu Lebzeiten wichtige Referenzen.

Und Ryo Fukui, so scheint es heute, hätte das auch sein können. Woche für Woche wachsen die Kommentarspalten unter seinen Alben auf Youtube an. Ein User schreibt: „Ryo Fukui ist der Grund dafür, dass ich unbedingt Klavierspielen lernen wollte.“ Ein anderer: „Dude, ich habe keine Ahnung, wie ich hier gelandet bin, aber ich bin echt froh darüber.“ Noch jemand findet: „Fucking amazing. Was für ein Reise, ich dachte die Zeit dieses Albums sei längst abgelaufen, aber … jetzt ist es wieder hier, auf Tausenden von Computern. God, I love the internet.“

Warum aber wurde Fukui nicht schon zu Lebzeiten einem internationalen Publikum bekannt? Zwar besuchte der Mann mit den nicht sonderlich langen Fingern nie eine Musikschule. Das Klavierspielen brachte er sich erst mit 22 Jahren selbst bei, nachdem er als 17-Jähriger mit dem Akkordeon angefangen hatte. Aber was ihm an Ausbildung und Erfahrung fehlte, holte er schnell nach. 1976, binnen sechs Jahren ab seiner ersten Berührung mit einer Klaviertaste, nahm Fukui jenes Album auf, das heute online das beliebteste ist. Im Jahr darauf, als er am Rande eines Auftritts in einem Jazzcafé Yasuko kennenlernte, folgte seine zweite Platte.

Weltreisen ins „Slowboat“

Fortan tingelte der Autodidakt durchs Land, spielte mal in großen und mal in kleinen Etablissements, um mit der Gage, die ihm am Ende in die Hand gedrückt wurde, durch den Monat zu kommen. Drei weitere Alben folgten, eine Zeit lang lebte Fukui auch in New York, dem Mekka für Jazz. Dort verfeinerte und erneuerte er unter Anleitung des Pianisten Harry Barry, der ein Freund wurde, jahrelang seinen Stil. In den 90ern schließlich kehrte er nach Hokkaidō zurück und eröffnete mit Yasuko das Slowboat. Doch jenseits der Insel ließ der Ruhm auf sich warten. Vielleicht war damals die japanische Jazzszene einfach zu verschlossen und Fukui als Japaner in den USA zu wenig angesehen, um eine echte Chance zu erhalten? Yasuki Fukui findet es müßig, drüber nachzudenken.

„Ryo wird ja jetzt richtig berühmt, im Internet“, sagt ein betagter Herr im Anzug, der am Tisch bei den Toiletten aus einer für sich allein reservierten Flasche japanischen Whisky trinkt. „Ist ja unglaublich, dass das doch noch passiert.“ Ob Yasuko daran auch etwas verdiene, fragt er unverblümt. Die verneint, zumindest was das große Geld angehe. Hätte sie diesen Typen, der einfach alle Alben hochlud, nicht verklagen sollen? „Ryo ging es immer zuerst um die Musik“, sagt sie. Reich werde man posthum im Internet wohl kaum. Aber bekannt werden, das sei möglich.

Und es zahlt sich auf andere Weise aus. Das Slowboat erfreut sich mittlerweile fast wöchentlich fanatischer Pilger aus aller Welt, die online auf die Musik gestoßen sind und bis nach Sapporo reisen. „Letztens war jemand aus Mexiko hier, davor wer aus Brasilien, dann eine Amerikanerin.“ E-Mails mit Dankesgrüßen gehen alle paar Tage ein. Japanische Zeitungen haben von diesem unverhofften Star aus dem Norden ihres Landes Notiz genommen.

Das gilt auch für die internationale Plattenindustrie. Derzeit liefern sich ein Schweizer und ein US-amerikanisches Label einen Bieterkampf um die Neuauflage von A Letter from Slowboat, dem letzten Album von Fukui aus dem Jahr 2015. Und am 15. März, dem Todestag von Ryo, erscheint in Japan die Fukui-Platte In New York, die 1999 veröffentlicht wurde, ein zweites Mal.

Die Musik spielt nicht mehr, und die ersten Gäste sind gegangen. Yasuko Fukui dreht sich zur Flaschenwand hinter der Theke, sucht nach dem passenden Drink für ihre Musiker von heute Abend. Ryoichi Tobisawa und sein Kollege haben die Instrumente in die Ecke gestellt, auf zwei Barhockern Platz genommen. Tobisawa scheint kurz zu überlegen, ob er fragen darf, zögert, fragt dann doch: „Schenkst du mir einfach den ein, den Ryo immer getrunken hat?“ Yasuko lächelt und nickt.

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