Ein richtiger Flashmob ist es nicht, was da stattfindet. Dafür verhalten sich die Gegner der Internetzensur zu auffällig, bevor es losgeht. Auf dem Platz vor dem Berliner Hauptbahnhof sitzen und stehen am Samstag kurz vor 13 Uhr knapp siebzig Leute in kleinen Gruppen beieinander, ein Lautsprecher ist aufgebaut. Drei Polizisten in einem Mannschaftswagen betrachten das Geschehen aus einiger Entfernung. Einige der Teilnehmer, die man genausogut als Demonstranten wie als Flashmobber bezeichnen kann, halten Schilder in der Hand, auf denen Todesanzeigen von Grundrechtsartikeln gedruckt sind. Als Todesdatum ist der 17. April 2009 eingetragen. An diesem Tag hat Familienministern Ursula von der Leyen (CDU) mit fünf großen Internetanbietern die Verträge über die "Erschw
chwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten im Internet" abgeschlossen.Auf anderen Schildern der Teilnehmer ist ein Konterfei von der Leyens zu sehen. Darunter steht der Spitzname, den die Gegner der Internetzensur ihr gegeben haben: Zensursula. Dazu ein Zitat aus Artikel 5 des Grundgesetzes: „Eine Zensur findet nicht statt.“Der Grundgesetz-ChorÜblicherweise ist ein Flashmob eine Veranstaltung auf öffentlichen Plätzen, bei der eine große Gruppe von Menschen auf ein geheimes Signal hin scheinbar spontan dieselbe Handlung vollzieht und danach kommentarlos auseinandergeht. Über das Internet verabreden sich die Teilnehmer - und Passanten, die nichts von den Verabredungen wissen, wundern sich über die ausgefeilte Choreographie. Bisweilen wird es für die Nichtwissenden sogar unheimlich. Zum Beispiel, wenn an der Grand Central Station in New York plötzlich 200 Leute mitten in einer Bewegung innehalten und mehrere Minuten wie eingefroren verharren. Zu Beginn waren Flashmobs unpolitische Aktionen, mehr und mehr werden sie aber auch zum Ausdrucksmittel politischer Proteste.Vor dem Berliner Hauptbahnhof stehen alle Teilnehmer um Punkt 13 Uhr auf und halten plötzlich Exemplare des Grundgesetzes in der Hand. Sie lesen im Chor einen Teil der Grundrechte laut vor: Artikel 1 („ Die Menschenwürde ist unantastbar“), Artikel 5 (Pressefreiheit), Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) und Artikel 19 („In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“) Als geheimes Signal dienten ihre Handyuhren, die sie alle nach der gleichen Uhr im Internet gestellt hatten, um synchron mit der Aktion zu starten.Franziska Heine am MikrofonDas gemeinsame Lesen klingt wie ein Gebet in der Kirche. Die Kirchentagsatmosphäre kann gewollt sein, aber verhindern ließe es sich vermutlich ohnehin nicht, wenn siebzig Leute gemeinsam denselben Text sprechen. Als der Chor Artikel 5 vorliest, spricht er die Worte „Eine Zensur findet nicht statt“ besonders laut.Nach der Lesung beklatscht die Protestgemeinde sich selbst, einige Passanten applaudieren mit. Einer der Organisatoren greift zum Mikrofon, bedankt sich fürs Kommen und entschuldigt die chaotische Organisation. Die Choreographie des Flashmobs stünde schließlich erst seit gestern fest - worin diese außer dem mehr oder weniger synchronen Vorlesen aber besteht, bleibt unklar. Einige der Zensurgegner verteilen noch Grundgesetze an Passanten.Auch Franziska Heine, die Bloggerin aus Friedenau ist da. Sie hat die erfolgreiche Online-Petition gegen Internetzensur aufgesetzt und den Bundestag damit gezwungen, sich mit dem Anliegen zu befassen. Ruhig nimmt sie das Mikrofon und tritt den Vorwürfen entgegen, die Unterzeichner der Petition seien eine kleine Zahl von Internet-Freaks: „Wir sind nicht nur im Netz, wie sind nicht nur eine kleine Minderheit.“ Wenn man die Teilnehmer näher betrachtet, muss man ihr Recht gegeben. Es haben sich bei weitem nicht nur junge Menschen eingefunden, die dem Blogger-Klischee entsprechen,wie es die taz beschreibt: „Turnschuhe, Baggypants und Trekkingkleidung“. Eltern sind da mit ihren Kindern, Rentner mit und ohne Enkel; die Gruppe ist äußerst heterogen."Noch ein bisschen im Grundgesetz lesen"Nach Franziska Heine richten sich die Veranstalter noch einmal mit einem verfassungsstützenden Appell an die Anwesenden: „Wir müssen daran erinnern, dass Grundrechte einen Wert haben. Das hat die gesetzgebende Gewalt vergessen!“ Es folgt ein demokratiepraktischer Vorschlag für die Teilnehmer: „Ihr könnt ja noch ein bisschen übers Grundgesetz reden.“ Es wirkt ein bisschen ratlos - als wüsste der Redner nicht, wie er die Veranstaltung zu einem gelungenen Ende führen kann. Er scheint selbst nicht sicher, ob sie vielleicht schon beendet ist.Ein Gesangstrio, das zuvor schon am Rande der Veranstaltung geübt hat, singt noch, begleitet von einer elektrischen Gitarre, eine umgedichtete Version von Rio Reisers „König von Deutschland“. Kein Anarchismus aus der Ton Steine Scherben-Zeit, die selbsternannten Grundgesetz-Hüter halten sich lieber an ein Werk des altersmilden Deutschrockers. Im Refrain heißt es „Macht Schluss mit der Vorratsdatenspeicherung!“ Die Strophen paraphrasieren hauptsächlich Artikel 5, den Pressefreiheitsartikel des Grundgesetzes.Wer wann was sagen darf, schien bei der Veranstaltung vorher nicht so richtig abgesprochen gewesen zu sein. Die Aktion hat insofern durchaus etwas von der Spontanität eines Flashmobs. Politisches Engagement 2.0 war es allemal: vom Mitmach-Medium Internet zum kreativen Mitmach-Protest vor dem Hauptbahnhof. Wer nicht wusste, dass die Demonstranten sich im Netz verabredet haben und ihre Aktion einen Flashmob nennen, wird aber kaum einen Unterschied zu herkömmlichen Protestformen erkannt haben. Außerhalb der virtuellen Welt sieht der Protest der Netzaktivisten jenem sehr ähnlich, was auch die 68er schon kannten: Plakate, Reden und Protestlieder.Aber ein wichtiges Anliegen haben die Veranstalter mit ihrem gemischten Klientel vor dem Hauptbahnhof dennoch deutlich gemacht: Nicht nur Blogger finden Internetzensur doof.