Innerhalb von zwölf Monaten sind in Deutschland zwei Muslime im Rahmen sogenannter Ehrenmordprozesse verurteilt worden. In Mönchengladbach verhängte das Gericht lebenslange Haft über den türkischstämmigen Täter, der seine Ex-Frau und die gemeinsame Tochter mit Kopfschüssen tötete. Auch in Hamburg lautete das Urteil auf lebenslänglich. Den Täter erwarten bis zu fünfzehn Jahre Haft - die höchste Strafe, die ein Gericht verhängen kann.
Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer ist das zu drakonisch. Er plädierte auf Spiegel Online dafür, den Hintergrund der Täter strafmildernd zu berücksichtigen. "Ich finde, bei einer derartigen Tat müssen auch der soziale Kontext und die Sozialisation des Täters bedacht werden. Er lebt vermutlich nach anderen sozialen Mustern. Deshalb muss man auch einen Verbotsirrtum in Erwägung ziehen", sagt Hassemer. In den Augen der Öffentlichkeit seien Ehrenmorde unentschuldbar: "Der ordre public sagt, dass es derartige Verbrechen bei uns nicht geben darf und dass man sie auch nicht entschuldigen kann. Deshalb wird dem Täter am Ende ein niedriger Beweggrund vorgeworfen. Und damit wird seine Tat als Mord gewertet. Ich finde, diese Verschärfung ist zu abstrakt, sie geht zu schnell, und sie geht sehr weit."
Hassemer will für die Auslegung der Gesetze nicht einzig die allgemeinen Moralvorstellungen in Deutschland zu Grunde legen: "Ich rege nur an, den Blick zu weiten und auch andere Aspekte zu bedenken. Ich plädiere dafür, zwei im Ergebnis einander entgegengesetzte Argumente in ein praktisches Verhältnis zu bringen. Innerhalb dieses Verhältnisses versuche ich, das entschuldigende Element zu stärken. Das ist modern und menschenfreundlich, wenn man sagt: Ich nehme Rücksicht auf den Zustand eines normativen Bewusstseins."
Ein verfehlter Begriff
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU) hat Hassemers Äußerungen stark kritisiert: "Die Aussagen Hassemers haben mich schockiert. Sie demütigen die Opfer und sind ein Schlag ins Gesicht der Frauen und Männer, die akut von solchen Morden bedroht sind." Böhmer hält den Begriff des "Ehrenmordes" für irreführend. Sie ziehe daher den Begriff der "Schande-Morde" vor, den der ehemalige Generalsekretär der UNO, Kofi Annan geprägt hat. "Für den Mord an jungen Frauen und Männern darf es keine mildernden Umstände geben. Potenziellen Tätern muss deutlich gemacht werden, dass solche schweren Gewaltverbrechen in Deutschland mit aller Härte und Konsequenz geahndet werden (...) Die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen endet dort, wo Menschenrechte und Gleichberechtigung missachtet werden", so Böhmer weiter.
"Wer dauerhaft in unserem Land leben möchte, muss die Grundregeln unseres Zusammenlebens nicht nur vorbehaltlos akzeptieren, sondern auch leben. Dazu gehört selbstverständlich, dass Frauen und Mädchen die gleichen Rechte auf ein selbstbestimmtes Leben und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben wie Männer." Böhmer sieht durch die Äußerungen Hassemers auch die Präventionsarbeit, die solche Morde verhindern soll, untergraben: "Viele Migrantenorganisationen und Respektpersonen aus der Gemeinschaft der Zugewanderten (...) bemühen sich intensiv deutlich zu machen, dass weder Religionen noch Traditionen Gewalt und Unterdrückung von Frauen rechtfertigen. Auch für ihre Arbeit sind die Äußerungen Hassemers kontraproduktiv und belastend."
Auch Dieter Wiefelspütz, der innenpolitsche Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, kann die Argumentation Hassemers nicht nachvollziehen: "Allein schon diese Vorstellung von Ehrenmorden. Das ist ein völlig fehlgeleiteter Begriff. Mord ist Mord. Diese familiären Vorstellungen von Ehre dürfen in Deutschland nicht berücksichtigt werden. Hassemers Position ist abwegig." sagte Wiefelspütz dem Freitag.
Jerzy Montag, der rechtspolitische Sprecher der Grünen, verurteilt die Ehrenmorde zwar scharf, hat aber Verständnis für die Vorschläge Hassemers: "Grundsätzlich kann die Tatsache, dass jemand aus Gründen der Familienehre tötet natürlich kein Strafmilderungsgrund sein. Aber auf der individuellen Seite im einzelnen Fall muss bei der Bewertung der konkreten Situation berücksichtigt werden, in welcher Familie und in welchem Umfeld der Täter sich befunden hat. Es muss berücksichtigt werden, ob ihm von seinen Verwandten, Bekannten und seinem gesamten Umfeld stets beigebracht wurde, dass ein solcher Ehrenmord richtig ist oder ob er Gelegenheit hatte zu erkennen, dass die türkische und deutsche Gesellschaft diese höchst verwerfliche Form der Bestrafung aus Gründen der Familienehre strikt ablehnen und verurteilen. Diese Berücksichtigung kann sich im Einzelfall strafmildernd, aber auch strafverschärfend auswirken, etwa dann, wenn der Täter zum Beispiel die Chance hatte die Verabscheuungswürdigkeit eines Ehrenmords zu erkennen und diesen trotzdem begangen hat" heißt es aus dem Büro der Bundestagsfraktion der Grünen in Berlin.
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