Feuer und Flamme für die WM

Brasilien Der Protestbewegung fehlen bisher Einheit und Zielstrebigkeit, um die Gesellschaft wirklich zu erschüttern und dadurch radikal zu verändern
Ausgabe 26/2013
Feuer und Flamme für die WM

Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP

Friedliche Massen oder rasende Randalierer: Brasilien lebt einen historischen Moment. Es ist über 20 Jahre her, dass es einen vergleichbaren Sturm des Aufruhrs gab. 1992 galt er Collor de Mello, dem ersten Präsidenten nach der Militärdiktatur, der in den Augen von Millionen Brasilianern sein Amt wegen einer inkompetenten Wirtschaftspolitik verwirkt hatte. Bei den jetzigen Protesten sind die Forderungen weit weniger klar. Viele sind empört über das versagende Bildungssystem, eine desolate Gesundheitsvorsorge, marode Verkehrsmittel, über in aller Öffentlichkeit verschwendete Steuergelder. Sie fassen das Motiv ihres Zorns mit einem Wort zusammen: Die Korruption ist der Schlüssel – sie hat sich eingenistet im administrativen und politischen Alltag Brasiliens, sehr tief, fast unwiderruflich.

Wut auf Profiteure

Jeder weiß das aus eigener Erfahrung: Der Strafzettel wegen Falschparkens wird durch ein Trinkgeld an den Beamten vermieden. Die Polizei will generell bezahlt sein, um aktiv zu werden. Sonst bleibt ein Delikt, das geahndet werden soll, die „Privatangelegenheit“ des Betroffenen. Doch erfasst die Korruption viel mehr und hat nach dem Eindruck einer Mehrheit der Brasilianer ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Man denke nur an den Mensalão-Skandal aus der Amtszeit des Präsidenten Lula (2003–2010), als im Nationalparlament 18 Abgeordnete der Opposition monatlich 30.000 Reais (10.000 Euro) erhielten, damit sie Regierungsvorlagen zustimmten. Es wäre illusorisch zu glauben, dass derartige Vergehen ein Alleinstellungsmerkmal des regierenden Partido dos Trabalhadores (PT) seien. Ganz im Gegenteil deutet vieles darauf hin, dass es sich um die absolute Normalität handelt.

Wichtige Instanz bei der Aufklärung des Mensalão-Skandals sowie anderer Affären war das Ministério Público, gern als „vierte Gewalt“ bezeichnet. Es hatte bisher den Auftrag, eine Brücke zu schlagen zwischen Rechtspflege und Exekutive. Als eine Art „Staatsanwaltschaft des Volkes“ war es dafür konstitutionell mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und stellte in den vergangenen drei Jahren etwa 15.000 Strafanträge, größtenteils gegen staatliche Institutionen. Genau damit soll bald Schluss sein: Der Entwurf für eine Verfassungsrevision (PEC 37) sieht vor, dem Ministerium das Recht zu entziehen, in Strafsachen zu ermitteln. Das soll stattdessen die Polizei übernehmen. Das PEC 37 geriet zuletzt immer mehr in den Fokus der Proteste, sodass die Abstimmung darüber verschoben wurde.

Auch die Fußball-WM 2014 ist längst mit dem Stigma der Korruption behaftet. Ein Beispiel: In Rio de Janeiro steht das berühmte Maracanã-Stadion symbolisch für Fußball als Volkssport. Nun wurde es wegen des Championats für umgerechnet 350 Millionen Euro öffentlicher Gelder umgebaut, um anschließend privatisiert zu werden. Insgesamt flossen bisher Investitionen im Wert von 2,5 Milliarden Euro in die Renovierung und den Neubau der zwölf WM-Stadien, größtenteils Mittel der öffentlichen Hand. Der Nachrichtendienst Universo rechnet vor, dieses Geld hätte für 123 neue Hospitäler oder 2.857 Kindergärten gereicht. Aber das Baugewerbe ist traditionell Hauptsponsor bei Wahlkämpfen, folglich darf es auf Großaufträge hoffen.

Während sich die Mittelschicht über Geldverschwendung zugunsten von Bauindustrie und FIFA aufregt, bekommen die Bewohner der Armenviertel das Vorspiel auf die WM ganz anders zu spüren. Etwa 200.000 Personen werden derzeit in ganz Brasilien enteignet und teils gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Abgesehen vom Schicksal jedes Betroffenen hat dieser Rigorismus langfristig Folgen für die urbane Struktur. „Es besteht das Risiko, dass durch die Umsiedlung der Unterprivilegierten die Segregation in den Städten erhöht wird. Sie sind dann nur noch das Domizil der Eliten“, meint Professor Orlando Santos Junior vom Institut für Stadt- und Regionalforschung in Rio de Janeiro. Immer unaufhaltsamer ist in das kollektive Bewusstsein Brasiliens eingedrungen: Ereignisse wie die WM oder die Olympischen Spiele waren nie für die Brasilianer gedacht, sondern für Finanzinvestoren, die Werbewirtschaft, den Fremdenverkehr und das Prestige ehrgeiziger Politiker, aber ebenso des IOC und der FIFA.

Parteiflaggen verbrannt

Warum brachen die Unruhen ausgerechnet jetzt aus? Die erhöhten Verkehrstarife trafen die Menschen wegen der Inflation bis ins Mark. Es wurde bereits seit 2012 dagegen demonstriert, was bislang im Ausland kaum wahrgenommen wurde. Zugleich rückte der Confed-Cup die absurd hohen Investitionen sowie die Menschenrechtsverletzungen rund um die WM ins Blickfeld der Brasilianer. Und schließlich wurden die Informationen zu den Protesten über die sozialen Netze im Internet extrem schnell verbreitet. Viele gingen auch aus Solidarität mit den Opfern von Gummigeschossen und Tränengas auf die Straße. Die meisten jünger als 25 und damit in etwa so alt wie die demokratische Verfassung Brasiliens aus dem Jahr 1988. Laut Umfragen sind nur ein Viertel der Demonstranten Schüler oder Studenten. Die Bewegung hat längst die verschiedensten Milieus mobilisiert, die Peripherie der sozial Deklassierten ebenso wie Mittelschichtler oder Arbeiter aus den Favelas. Eine Mehrheit bekennt sich zu keiner politischen Strömung. „Sem partido“ („ohne Partei“) war während der Aufmärsche stets in Sprechchören zu hören. Mehrfach wurden Parteiflaggen verbrannt, wenn sie irgendjemand zeigen wollte. Vor Tagen wurden die Bustarife in allen Metropolen wieder gesenkt, doch geht es zwischenzeitlich wohl um sehr viel mehr als den geplanten Aufpreis.

Was die gesellschaftsverändernden Ziele des Aufbegehrens sein könnten, scheint diffuser denn je. Gegen Korruption und Willkür sind alle – in der Frage, was dagegen zu tun sei, herrscht Uneinigkeit. Eine Minderheit verlangt den Rücktritt der progressiven Präsidentin Dilma Rousseff, trotz ihrer auf Dialog anlegten Fernsehrede vom Wochenende. Andere campen seit Tagen für den Rücktritt von Sergio Cabral, des konservativen Gouverneurs von Rio de Janeiro, vor dessen Haus.

Dass die Bewegung über kein politisches Rückgrat verfügt, birgt die Gefahr, von einer nationalistischen Rechten gekapert zu werden. Die Versuche dazu sind offensichtlich – sei es durch konservative Medien oder rechte Politiker, die ihr Bestes geben, um die Proteste als Anti-PT-Kampagne darzustellen. Rios Gouverneur erwägt offen den Einsatz des Militärs, was bei vielen ungute Erinnerungen an den Putsch von 1964 weckt. Anders als bei der erzwungenen Demission von Staatschef Collor 1992 geht es 2013 nicht um eine Person oder Regierung. Die Wut richtet sich gegen die politische Klasse überhaupt und ein System, das am Gemeinwohl nicht interessiert ist.

Wenn viele der Protestierenden politisch unerfahren oder unbelastet sind, birgt dies andererseits die Chance, auf eine Bewegung hoffen zu können, die nicht nur jenseits von allem Parteienfilz in neuen Kategorien denkt, sondern eine radikal umgepflügte politische Ordnung will. Die Frage ist nur: Haben die Proteste noch den Zulauf wie bisher, wenn der Confederations Cup am Wochenende ausgespielt sein wird?

Felix Martens ist freier Autor und lebt in Brasilien

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Geschrieben von

Felix Martens

Lebt in Rio de Janeiro und studiert Urbanistik und Soziologie.

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