Russlands ost-westlicher Diwan

Ideologie Neo-Eurasianismus heißt das Modell, das die kapitalistische Weltordnung ablösen soll – in allen gesellschaftlichen Bereichen
Ausgabe 28/2014
Unterschreiben in Astana: Wladimir Putin (rechts), Nursultan Nasarbajew (Mitte), Kasachstan, und Alexander Lukaschenko, Weißrussland
Unterschreiben in Astana: Wladimir Putin (rechts), Nursultan Nasarbajew (Mitte), Kasachstan, und Alexander Lukaschenko, Weißrussland

Foto:Foto: Michael Klimentyev/Ria Novosti/AFP/Getty Images

Ende Mai wurde in der kasachischen Hauptstadt Astana die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) zwischen Weißrussland, der Russischen Föderation und Kasachstan offiziell beschlossen und vertraglich gesichert; die noch ausstehende Ratifizierung ist Formsache. Bereits am 1. Januar 2015 soll die Union ihre Aktivitäten aufnehmen und fortan eine kontinentale ost-westliche Achse bilden. Die schnurgerade, sich über 3.000 Kilometer erstreckende Achse wird gestützt und gelenkt durch ein gemeinsames wirtschaftspolitisches Konzept, das der Europäischen Union nachempfunden wurde, aber als deren Widerpart ausgelegt ist. Die EAWU hat sich im Verlauf zweier Jahrzehnte planmäßig konstituiert. Dabei übernahm sie manche Komponenten und Zielsetzungen aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und nutzt die Strukturen einer Zollunion, die sich bereits 2010 mit den gleichen Teilnehmerstaaten formierte.

Die Bezeichnung der neuen Wirtschaftsunion als eurasisches Bündnis hat programmatische Bedeutung – sie verweist auf ein ideologisches, über die Wirtschaftswelt weit hinausgreifendes Modell, das in Russland seit langem lebhaft diskutiert, ausdifferenziert und popularisiert wird. Es handelt sich um den sogenannten Neo-Eurasianismus, eine groß angelegte Staatsideologie, die heute von einer komplexen Infrastruktur getragen wird – von Forschungsinstituten, Presseorganen, Propagandazentren und einer offiziell registrierten politischen Partei, die unter dem Namen Eurasia in allen Teilen der Russischen Föderation Filialen unterhält und deren Vorsitzender, Alexander Dugin, seit geraumer Zeit als einflussreicher politischer Berater zugange ist.

Pufferzone Europa

Dugin, umtriebiger Vortragsredner und vielfacher Buchautor, wirbt mit weitreichender behördlicher und zunehmender publizistischer Unterstützung für den „eurasischen Weg als Nationalidee“. Diese Idee hat er inzwischen zu einer Ideologie mit globaler Geltung ausgestaltet, die der aktuellen, von den USA dominierten liberalen Weltordnung den Rang ablaufen soll. Und Dugin hält auch das Rezept – von ihm Strategie genannt – für deren Umsetzung bereit: militärische Hochrüstung, atomare Abschreckung, geheimdienstliche Operationen im Aus- und Inland sowie Isolierung Andersdenkender in den eigenen Reihen, Konfliktförderung innerhalb der NATO-Staaten, nachhaltige Unterstützung sympathisierender Regierungen (etwa im Iran und Syrien), Einigung christlich-orthodoxer Staaten (Bulgarien, Serbien, Mazedonien, Griechenland und andere) unter russischer Dominanz, Schaffung einer „eurasischen geopolitischen Lobby“ in der atlantischen Ländergemeinschaft, Bildung neuer wirtschaftlicher und politischer Allianzen zum Nachteil des globalen Kapitalismus, ideologischer Kampf gegen den „totalitären“ Liberalismus US-amerikanischer Prägung mit seiner Tendenz zu gleichmacherischer Korrektheit.

In dieser langfristigen Perspektive können die russischen Übergriffe auf Georgien und die Ukraine oder die anhaltende Repression in Tschetschenien als Initialereignisse einer neuen eurasischen Macht- und Expansionspolitik gelten, und die unlängst erfolgte Gründung der EAWU dürfte ein weiterer, hier nun wirtschaftlich motivierter Schritt im Rahmen dieser Politik sein. Die jüngsten außenpolitischen Schachzüge Wladimir Putins lassen tatsächlich den Eindruck aufkommen, der Präsident handle konsequent nach einem Strategiepapier mit eurasischer Ausrichtung und Zielvorgabe. Manche seiner Grundsatzerklärungen und Einzelentscheidungen erhärten diese Vermutung. Sollte Putin diesbezüglich freie Hand behalten und von internen Antagonismen oder wirtschaftlichen Rückschlägen verschont bleiben, dann wäre nach eurasischem Planspiel für Westeuropa und den atlantischen Westen generell wenig Gutes zu erwarten.

Folgt man den Vordenkern des sogenannten Neo-Eurasianismus (unter anderen Dugin, Lew Gumiljow, und Sergei Panarin), könnte es zur Errichtung eines transkontinentalen Imperiums unter russischer Führung, mithin einer neuen Weltmacht und Weltherrschaft, kommen. Sie überwindet den vom Westen dominierten liberalistischen Globalismus und ersetzt ihn durch ein wiederum globales politisches und ideologisches Konzept, dessen Vormarsch mit der „postsowjetischen Integration“ beginnt. Wie die Annexion der Krim, der Machtkampf in der östlichen Ukraine und die Aufgleisung der EAWU zeigen, hat sich diese Prognose partiell bereits erfüllt.

Auf die „Integration“ soll dann, entsprechend dem „Imperativ zur Schaffung einer Eurasischen Union“, eine kontinentale Blockbildung folgen, aus der schließlich unter russischer Supervision eine globale Staatengemeinschaft hervorgeht, deren Horizont vom Atlantik über den Nahen Osten und Zentralasien bis zum Pazifik reicht – im Westen begrenzt durch Europa, im Fernen Osten durch Japan, die – in dieser politischen Fantasie – beide als neutrale („neutralisierte“) Pufferzonen fungieren sollen. Damit entstünde eine machtvolle Parenthese, von der die beiden amerikanischen Kontinente definitiv ausgeschlossen blieben. Gemäß Dugins geopolitischer Strategie „eröffnet Russland mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert die entscheidende Phase eines zivilisatorischen Gegenzugs, in der sich erweisen wird, ob es das atlantische Modell der Weltordnung endgültig und unwiderruflich besiegen wird“.

Klar ist also, dass der künftige eurasische Staatenbund keineswegs bloß ein neues Machtgefüge sein soll, sondern ein neuer Zivilisationstyp, der kulturell wie gesellschaftlich massive Umschichtungen mit sich bringen wird.

Nicht alle dieser Umschichtungen dürften Wladimir Putin und seinen Adlaten ins Konzept passen. Denn auf politischer Ebene sehen die Eurasier ein multipolares Staatswesen beziehungsweise Staatenbündnis vor. Auch wenn es wohl weiterhin vertikale (politische, militärische) Machtstrukturen geben wird, soll sich die multinationale eurasische Volksgemeinschaft horizontal verbinden und so auch intern expandieren. Gefragt ist eine homogene Verteilung der Staatsbevölkerung, um die Metropolen zu entlasten und zugleich die Regionen aufzuwerten. Ein neuer, spezifisch „eurasischer Föderalismus“ wird diese Umschichtung ermöglichen. Der kaum bevölkerte russische Nordosten – ein gewaltiges Territorium, das durch die fortschreitende Klimaerwärmung ohnehin an Interesse und Produktivität gewinnen wird – soll besondere Förderung erfahren.

Unterm Doppeladler

Putins Beharren auf einer autoritären Machtvertikale und die von ihm durchgeführte Entmachtung der Regionen zugunsten eines rigiden Zentralismus konterkarieren das Konzept einer „organischen Demokratie“, das von den neuen Eurasiern unter der Bezeichnung „Demotie“ gegen die liberale Demokratie aufgeboten wird – diese habe jeglichen Bezug zum Volk und zum Völkischen verloren und funktioniere ausschließlich nach quantitativen Kriterien, wohingegen die kommende eurasische Demokratie aus „rein qualitativen“ Prämissen entwickelt werde. Demokratie müsse als Volksganzes und zugleich als multi-ethnische, organisch gewachsene und sich auslebende Gemeinschaft begriffen werden, „zusammengehalten von der gemeinsamen Geografie, der gemeinsamen Geschichte, der gemeinsamen Kultur, einem gemeinsamen zivilisatorischen Projekt sowie einer gemeinsamen Schicksalsbestimmung“. Und das in striktem Gegensatz zur „Fragmentierung ganzer Völker in atomare Elemente nach dem Quantitätsprinzip demokratischer Abstimmungen“. Allein das eurasische Projekt vermöge die Volkssouveränität zu garantieren.

Die geeinte eurasische Welt wird demnach in erster Instanz eine Gemeinschaft von Völkern, nicht von Staaten sein, auch wenn staatliche, bürokratische und militärische Strukturen im Rahmen des Notwendigen erhalten bleiben. Der Staat kann sich nur im Volk und durch das Volk verwirklichen. Das Volk – dereinst also die eurasische Völkergemeinschaft – ist „eine ganzheitliche Welt, der es an nichts fehlt“, ein politisches Gebilde, „das lebt, atmet, weint, sich voranbewegt, Gedanken und Gefühle hegt, leidet und sich freut“.

Dieses organismische Volks- und Staatsverständnis – Alexander Dugin fordert zu dessen Festigung eine einschlägige „Metaphysik des russischen Volks und eine Ontologie des russischen Staats“ – kann nicht als Errungenschaft der neuen Eurasier gelten. Ist es doch vielmehr ein später Abklatsch großrussischer Gesinnung, wie sie sich bereits im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Die damalige Staatsdoktrin verankerte das Gemeinwesen in der fundamentalen Triade von Autokratie, Orthodoxie und Volkstum. Das konservative russische Slawophilentum und die panslawische Bewegung machten sich diese offizielle Doktrin zu eigen, wobei sie mit forscher Selbstverständlichkeit vom Primat des Großrussentums ausgingen, das nicht nur gesamtslawische Führungskraft sein sollte, sondern auserwählt war, für die ganze Welt „ein neues Wort“ auszusprechen, die ganze Welt mit seinem brüderlich-imperialen Geist zu durchwirken und auf diese Weise deren „All-Einheit“ herzustellen.

Es sei Russlands geopolitische Bestimmung (so schwärmte noch in den 1870er Jahren Fjodor Dostojewski), die kulturelle und religiöse Führung einer in Zukunft organisch verbundenen „All-Menschheit“ zu übernehmen. An obsolete Positionen wie diese hat auch der späte Alexander Solschenizyn angeknüpft – und mehr als das: Im persönlichen Gespräch mit Wladimir Putin hat er für deren Reaktualisierung geworben. Nun erneuern und erweitern russische Politologen und Historiosophen, an erster Stelle die Neo-Eurasier, diese Positionen und gewinnen damit offenkundig wachsenden Einfluss auf die derzeitige Außenpolitik Moskaus und deren langfristige Strategie.

Dass diese Politik heute wieder offiziell unter dem Zeichen des althergebrachten zaristischen Doppeladlers praktiziert wird, ist als symbolträchtiges Detail zu vermerken: Das monströse Wappentier der Russischen Föderation hält seinen stechenden Blick gleichzeitig auf West und Ost, nach rechts und nach links gerichtet. Für die euro-amerikanischen „Atlantiker“ wie für die zentralasiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR und für Japan ist dieser doppelte Blick ein Fanal.

Felix Philipp Ingold ist Publizist und Schriftsteller. Als Übersetzer und Herausgeber legt er demnächst die Apotheose der Grundlosigkeit des Philosophen Lew Schestow vor

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