Es ist der 16. Januar 2008, 19.30 Uhr, 30 Kilometer nordwestlich von Münster, 12 Meter über dem Boden. Cécile Lecomte hängt kopfüber an einem Seil, das sie zwischen zwei Bäumen gespannt hat. Unter ihr Schienen, auf denen jetzt eigentlich ein Zug mit Atommüll rollen sollte. Aber die Polizei stoppt ihn. Die Beamten sind machtlos, die Staatsmacht kommt an die Aktivistin nicht heran.
Sieben Stunden harrt Lecomte über dem Gleis aus. Dabei muss sie in Bewegung bleiben, um kein Hängetrauma zu erleiden. Wenn das Blut in herabhängende Körperteile sackt, kann das tödlich enden. Sieben Stunden Kälte, Anspannung, Konzentration. Die Höhe verzeiht keinen Fehler, keinen falschen Handgriff. Die Feuerwehr rückt an, das Technische Hilfswerk. Sie können nichts ausrichten. Schließlich muss ein spezielles Kletterteam der Bundespolizei eingeflogen werden, um Lecomte herunterzuholen. Eine halbe Stunde später rollt der Zug wieder. Die Aktion hat den Transport nicht verhindert, aber sie hat ihn um einiges mühsamer gemacht.
Monate später steht Lecomte wegen der Aktion vor Gericht, wegen Nötigung des Zugfahrers und Verstoß gegen die Eisenbahn-Betriebsordnung. Sie wird freigesprochen. Sie hing so hoch, dass der Zug hätte durchfahren können, urteilen die Richter.
Spitzname „Eichhörnchen“
Sowohl die juristische Auseinandersetzung als auch der Widerstand in der Luft sind Teil ihres Jobs. Lecomte hat ihr Hobby, das Klettern, und ihre Überzeugungen zu einem neuen Berufsbild verschmolzen: professionelle Protest-Kletterin. Egal, ob es gegen Atomkraft geht, gegen Nazi-Demonstrationen, gegen Waldrodung, gegen Flughafenausbau oder gegen Stuttgart 21, die 32-Jährige mit den kurzen Haaren ist dabei. Rund 40 sogenannten Paten sind diese Aktionen so wichtig, dass sie monatlich zwischen fünf und fünfzig Euro spenden, Lecomtes Gehalt, vermittelt über die Bewegungsstiftung. Nach Abzug von Miete, Versicherung und den Kosten für politische Aktionen bleiben ihr rund 400 Euro im Monat. Davon lebt sie.
Zum Gespräch bittet Lecomte in einen Bauwagen, in dem sie lebt. Der steht in einer Wagensiedlung in Lüneburg. In der Szene hat sie den Spitznamen „Eichhörnchen“. Bei der Polizei ist ihr Ruf nicht so gut. Als „absolut nervig“ hat sie der örtliche Polizeipräsident im Fernsehen bezeichnet: „Das ist absolut krank, was sie macht.“
Als Lecomte vor zehn Jahren zum ersten Mal gegen den Castor protestierte, kettete sie sich noch an die Schiene. Aber sie erkannte bald, dass der Protest in der Luft effektiver ist. „Die Leute gucken hin, denken nach und meine Gegner, zum Beispiel die Atomkonzerne, haben große Probleme.“ Sie bezeichnet sich selbst als libertär, kämpft für eine Welt ohne Herrschaft. Doch mit großen Theorien kann sie wenig anfangen. „Ich bin praxisorientiert.“
Klettern aus Leidenschaft
Aufgewachsen ist sie in Orléans, ihren französischen Akzent hört man noch heute. Sie interessiert sich schon früh für Politik – und sie klettert, seit sie denken kann. Sie gewinnt die französische Jugendmeisterschaft im Klettern. Dann während ihres Wirtschaftsstudiums macht sie ein Austauschjahr in Bayreuth, sucht den Kontakt mit politischen Gruppen, geht zur Grünen Jugend, lernt die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung kennen und ist begeistert von deren Arbeit. Später studiert sie Französisch als Fremdsprache, um nach Deutschland zurückzukehren. Seit 2005 wohnt sie in Lüneburg, arbeitet erst als Fremdsprachenassistentin, dann als Lehrerin an einer Waldorfschule. Doch ihr Engagement stößt im Lehrerzimmer auf Unverständnis, jetzt ist sie Vollzeit-Aktivistin.
In Lecomtes Wohnwagen hängen von der Decke ein Trapez und zwei Ringe, zum Trainieren. An den Wänden kleben bunte Polit-Plakate, auf dem Tisch liegt Post von der Polizei, als Sitzbank dient eine Truhe aus silbernem Blech. Darin befindet sich alles, was Lecomte zum Weltverbessern braucht: Gurte, Seile, Schnüre in allen Farben, Längen und Dicken, dazu jede Menge Karabinerhaken. Oder in ihren Worten: Bandschlingen, Reepschnüre, Abseil-Acht, Schraub-Karabiner, Cowtails, Dynamik- und Halbstatikseile. Vier bis fünf Kletterer kann man damit ausrüsten, nur die ganz langen Seile fehlen in der Kiste.
An einem Holzpfahl im Bauwagen demonstriert sie, wie eine Bandschlinge funktioniert. Je doller man zieht, desto enger zieht sich die Schlinge um den Pfahl und kann nicht mehr nach unten abrutschen. Ähnlich ist es auch bei einem Klemmknoten. Leider verstünden dieses Prinzip nicht alle Polizisten, erzählt sie. Es kommt vor, dass einer versucht, sie nach unten zu ziehen, während sie festgeknotet ist und die Schlinge sich durch das Ziehen nur noch fester schließt. Wegen des drohenden Hängetraumas extrem gefährlich. Doch die Polizisten wissen davon in der Regel nichts. „Ich weiß, welches Risiko ich beim Klettern eingehe“, sagt Lecomte. „Aber was die Polizei macht, ist oft lebensgefährlich.“ Eine Ausnahme stellten die ausgebildeten Kletterer der Bundespolizei dar. „Die wissen zum Beispiel, dass sie nicht an den Füßen zerren dürfen.“
Prozesse sind Teil des Jobs
Meist sieht sie die Polizisten irgendwann vor Gericht wieder. „Es gab ungefähr ein Dutzend Prozesse gegen mich, vielleicht auch zwei Dutzend. Ich weiß es einfach nicht genau.“ Häufig geht es um das Betreten der Bahnanlage, eine Ordnungswidrigkeit. Manchmal wird das Verfahren eingestellt, manchmal wird sie freigesprochen. „In 70 oder 80 Prozent der Fälle setze ich mich durch“, erzählt sie mit Stolz in der Stimme. Oft verteidigt sie sich selbst, inzwischen gibt sie schon Jura-Workshops für andere Aktivisten. Dreimal wurde sie aber auch wegen Straftaten verurteilt: Nachdem sie gentechnisch veränderte Pflanzen aus einem Acker gerissen hatte, wurde sie der Sachbeschädigung für schuldig befunden. Für eine Baumbesetzung gegen den Frankfurter Flughafenausbau und für eine Baggerbesetzung gegen Stuttgart 21 wurde sie jeweils wegen Hausfriedensbruch verurteilt.
Sie klagt aber auch zurück. Schon 16 Mal hätten Gerichte das Vorgehen der Polizei für rechtswidrig erklärt, sagt sie. Mal waren es Festnahmen, mal Platzverweise, mal eine Rund-um-die Uhr-Überwachung. Diese Fälle führt sie in ihrer persönlichen Statistik: der „Datei politisch motivierte Polizeikriminalität“, wie sie es nennt. Wenn man ihr so zuhört und bemerkt, wie viel sie beim Erzählen lacht, wirkt das alles sehr leicht – wie ein endloses Räuber-und-Gendarm-Spiel unter Erwachsenen.
Vier Tage Präventivhaft
Doch das Fröhlich-Freche und der Stolz auf ihre Punktsiege sind nur die eine Seite. Der Dauerkonflikt mit der Polizei hat bei Lecomte auch Narben hinterlassen. 2008 wurde sie während des Castor-Transports vier Tage in präventiven Langzeitgewahrsam genommen. Später attestierte ihr ein Arzt als Folge der Einzelhaft eine posttraumatische Belastungsstörung, sie machte eine mehrjährige Psychotherapie.
Wenn sie heute über die vier Novembertage redet, spricht sie von „Psychoterror“ und davon, dass sie vor Angstzuständen kaum noch Luft bekommen habe. Am ersten Tag war sie auf der Polizeiwache in Lüneburg, ab dem zweiten in Braunschweig. Ihre Zelle, so erzählt sie, war im Keller, durch das Fenster sah sie bloß Abgase vom Polizeiparkplatz. Sie durfte keine persönlichen Sachen mitnehmen, weder etwas zu schreiben noch zu lesen. Es gab keinen Hofgang und das Neon-Licht blieb die ganze Nacht an. „Du fühlst dich beobachtet – rund um die Uhr.“ Erst am dritten Tag änderte sich die Situation, nachdem ihre Anwältin sich beschwert hatte.
In der Präventivhaft fühlt sie sich auf einmal sehr einsam. Um sie herum nur Polizisten, die in militärischem Ton mit ihr redeten: Aufstehen! Kommen! Einen Lichtblick aber gab es: ein Beamter, der verzweifelt in ihre Zelle kam, weil sich zu viele Atomkraftgegner beschwert hatten. „40 Mal wurde bei der Polizei angerufen. Der Polizist wollte, dass ich was dagegen mache“, erzählt sie. In dem Moment merkte Lecomte, dass sie nicht allein war – das gab ihr Kraft. Später erfuhr sie von ihrer Anwältin, dass es sogar eine Mahnwache für ihre Freilassung gegeben hatte.
Gegen die Einsamkeit
„Alle Sachen, die die Einsamkeit brechen, sind extrem wichtig“, sagt Lecomte heute. Sie brauche jetzt immer ihre Freunde, die sie vor der Polizeiwache in Empfang nehmen und mit ihr reden würden. „Früher habe ich dieses Bedürfnis nicht gehabt.“ Und noch etwas hat sich verändert: In manchen Situationen habe sie Flashbacks. „Sobald die Bullen gezielt mich festnehmen oder mich beim Klettern gefährden, gerate ich in Panik. Diese Sonderbehandlung ist das Problem. Dann flippe ich aus und schreie die an. Da kann auch schonmal 'Du Arschloch' rauskommen.“
Es ist ihre Angst davor, sich wieder so ohnmächtig zu fühlen wie in der Zelle mit dem immer leuchtenden Neon-Licht. In Präventivhaft kam sie damals wegen der Gefahrenprognose der Polizei. „Es geht dann nicht mehr darum, was ich mache, sondern was ich angeblich bin. Das Einsperren ist total willkürlich.“
Trotz dieser Erfahrung macht sie weiter. „Ich habe nie eine Sekunde daran gedacht, aufzuhören.“ Ohne ihr Engagement könne sie nicht glücklich werden, ist sie sich sicher. Sie habe aber schon über die Art ihrer Aktivitäten nachgedacht und halte jetzt auch öfter Vorträge, recherchiere Hintergründe, entwerfe Flugblätter.
Adrenalin als Schmerzmittel
Neben der Präventivhaft gab es noch ein anderes Erlebnis, das ihr Leben grundlegend veränderte: 2005 erfährt sie, dass sie chronische Polyarthritis hat. Ihre Gelenke entzünden sich und schwellen an, die Knochen werden nach und nach zerfressen. Bei ihr sind vor allem die Zehen und die Handgelenke betroffen, sie kann daher nicht weit laufen. „Nach zehn Minuten will ich keinen Schritt mehr machen.“ Wenn sie einen sogenannten Schub hat – etwa einmal im Monat – wird der kleinste Gang zum Problem.
Als sie von der Krankheit erfuhr, war das ein Schock. „Ich musste erst lernen, das zu akzeptieren.“ Heute hat sie einen Schwerbehinderten-Ausweis, ihre Krankenkasse zahlt jeden Monat 2.000 Euro für eine Therapie. Seit zweieinhalb Jahren schluckt sie täglich Schmerztabletten. Die machen sie zwar müde und zehn Kilo schwerer, aber die Schmerzen bleiben so zumindest erträglich.
Und das Klettern? Das sei kein Problem, versichert sie. „Natürlich werde ich die Routen von früher nie wieder machen können. Aber Klettern ist etwas für faule Leute. Mit der richtigen Technik kannst du sehr weit kommen. Und bei den Aktionen habe ich sowieso genug Adrenalin im Blut, das ist ein gutes Schmerzmittel.“
Das Gesicht der Aktionen
Sie ist dabei auch nie allein. „Ohne andere Menschen könnten die Aktionen gar nicht stattfinden“, betont Lecomte. In der Regel seien zwischen drei und zwanzig Menschen beteiligt. Sie achten am Boden auf die Seile, klettern mit, warnen den Lokführer des Castor-Transports, reden mit Polizei und Presse. In der Öffentlichkeit ist oft nur Lecomte zu sehen, das Gesicht der Aktionen.
Bekommt sie durch diese Aufmerksamkeit nicht eine sehr exponierte Position innerhalb einer sich basisdemokratisch verstehenden Bewegung? „Mir geht das auch manchmal auf den Keks“, sagt sie. „Ich wünsche mir eine Presselandschaft, die anders funktioniert, aber ich muss mit der heutigen Situation irgendwie umgehen.“ Jeder solle die Fähigkeiten einsetzen, die er oder sie habe. Bei ihr sei das nun mal das Klettern. „Du bist ein Glied in der Kette des Widerstands.“
Sie verweist auf ihre Finanzierung, das Paten-Prinzip findet sie gut. Es ist der konkrete Beweis, dass Menschen hinter ihr stehen: „Ich bin der Meinung, dass Widerstand von Solidarität lebt. Auch wenn das kein eigenes Handeln ersetzt.“
Jetzt wird Lecomte erstmal durch Deutschland reisen und ihr neues Buch über ihre Arbeit vorstellen. Eingeladen wird sie von örtlichen Politgruppen oder Freunden, die eine Veranstaltung mit ihr organisieren. Es ist eine Fortsetzung ihres Kampfs mit anderen Mitteln, aber die Polizei könnte das freuen, denn Lecomte sagt: „Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt noch die Zeit zum Klettern habe.“
Ziviler Ungehorsam in luftiger Höhe
Seit 15 Jahren ist Cécile Lecomte in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv, mittlerweile als Profi-Aktivistin, deren Aktionen von Unterstützern finanziert werden. Über ihre Arbeit hat sie ein Buch geschrieben, das nun Ende Januar erscheint: Kommen Sie da runter! – Kurzgeschichten und Texte aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin (Verlag Graswurzelrevolution). Darin erzählt sie von ihren Aktionen, von skurrilen Erfahrungen mit Polizei und Justiz, aber auch von Schikanen und Gefängnis.
Lecomte steht mit ihren Aktionen in der Tradition des zivilen Ungehorsams, die sich mit Namen wie Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi und Martin Luther King verbindet: Aktivisten verstoßen wegen eines übergeordneten Anliegens bewusst gegen Gesetze, dabei kommen jedoch keine Menschen zu Schaden. Lecomte hat mit dem Aktionsklettern hierfür eine persönliche Form gefunden.
In ihrem Buch findet sich aber zum Beispiel auch eine Verteidigungsschrift fürs Gericht, die Juristenprosa ironisiert: „Ebensowenig gab es sonstige physikalische Veränderungen, insbesondere keine Veränderungen der Erdanziehungskraft, aus denen auch nur annähernd geschlossen werden könnte, die Beklagte habe sich ‚plötzlich schwer‘ gemacht. Beweis: Einholung eines Sachverständigengutachtens.“
Ab Februar stellt Lecomte auf einer Lesereise ihr Buch vor. Die Termine findet man unter: eichhoernchen.ouvaton.org.
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