Bus und Bahn: Kostenlos rechnet sich

Nahverkehr Ein Nulltarif im ÖPNV klingt erst mal utopisch. Doch es ist der beste Weg zu einer ökologischen, sozialen und modernen Stadt
Ausgabe 37/2015
Im Schnitt fünfmal so billig wie eine Autofahrt: der ÖPNV
Im Schnitt fünfmal so billig wie eine Autofahrt: der ÖPNV

Foto: Westend61/imago

Es ist eine kleine Revolution im brandenburgischen Templin: Die Busse fahren kostenlos – für alle. Fahrscheine werden abgeschafft, die Stadt übernimmt die Kosten. 1998 wird das zunächst probeweise eingeführt, dann beibehalten. Zugleich verbessert sich das Angebot: Neue Haltestellen kommen hinzu, die Busse verkehren nun häufiger, auch wenig genutzte Strecken werden fortan mit Kleinbussen bedient. All das lässt die Fahrgastzahlen explodieren. Nach vier Jahren nutzen fast 15 Mal so viele Menschen den Öffentlichen Personennahverkehr, ÖPNV.

Im Jahr 2003 hat die Stadt mit ihren rund 16.000 Einwohnern aber nicht mehr genug Geld, seitdem können sich die Bürger die Jahreskurkarte kaufen und damit kostenlos fahren. Sie kostete erst 29, inzwischen 44 Euro. Die Fahrgastzahlen sind eingebrochen, liegen aber immer noch ungefähr fünfmal so hoch wie vor der Verkehrsrevolution.

Die Idee eines Nulltarifs im ÖPNV klingt nach gelebtem Kommunismus: Alle dürfen das Angebot nutzen, so oft sie wollen. Geld spielt keine Rolle. Niemand muss aus Armut auf Mobilität verzichten. Und vor allem die Umwelt profitiert: Busse und Bahnen verursachen pro Person deutlich weniger Abgase als Autos. Die Utopie scheint sogar in greifbarer Nähe: In vielen Universitätsstädten gibt es für Studenten ein Semesterticket, man müsste dieses nur auf alle Bewohner und Gäste ausdehnen.

Kostenlos oder fahrscheinlos?

Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht. Die Umweltschützer vom ökologischen Verkehrsclub VCD zum Beispiel stehen der Idee eher kritisch gegenüber. Schließlich kostet der Nulltarif viel Geld – und das könnte man stattdessen nutzen, um das ÖPNV-Angebot zu verbessern, argumentieren sie. So stiegen womöglich mehr Menschen um.

Die Diskussion beginnt schon beim Begriff: „Kostenlos“ ist der Betrieb der Busse und Bahnen sicherlich nicht – irgendwer zahlt immer. Von einem „fahrscheinlosen“ System sprechen die Piraten, doch dieser Ausdruck kann missverstanden werden. Eine Abrechnung über Chipkarte oder Handy käme auch ohne Papier-Fahrschein aus. Am treffendsten ist daher wohl der Ausdruck „Nulltarif“.

In Berlin sind die Piraten mit der Idee in den Wahlkampf gezogen, inzwischen sind auch Grüne und Linke dafür – die Modelle zur Umsetzung unterscheiden sich allerdings. Die Grünen wollen etwa volle Busse und Bahnen vermeiden und fordern, dass zu den Hauptverkehrszeiten weiterhin Tickets gekauft werden müssen. Die Linken möchten die Pendler aus Brandenburg zur Kasse bitten. Die Piraten allerdings wollen konsequent sein. „Unser Ziel ist tatsächlich, komplett auf Fahrscheinkontrollen zu verzichten“, sagt der verkehrspolitische Sprecher im Abgeordnetenhaus, Andreas Baum. Das gebe nicht nur dem Bürger das Gefühl der grenzenlosen Freiheit, sondern verringere auch die Kosten für die Verkehrsbetriebe.

In einer Machbarkeitsstudie der Piratenfraktion wird das auch beziffert: In Berlin fallen Kontrolle und Vertrieb mit 50 Millionen Euro ins Gewicht, im Bundesdurchschnitt beläuft sich der Vertriebsaufwand auf sechs bis acht Prozent der Netto-Fahrgeldeinnahmen. Ohne Tickets wird’s also auch etwas billiger.

Knapp 50 Euro im Monat

Was kostet der ÖPNV zum Nulltarif? Schon heute zahlen die Fahrgäste nicht den Preis, der die Kosten völlig deckt. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung schätzt, dass bundesweit 37 Prozent der Kosten über Tickets finanziert werden, 63 Prozent über öffentliche Zuschüsse. Der Fahrschein ist also bereits hoch subventioniert. Wäre es so teuer, ihn ganz wegfallen zu lassen?

Zu bedenken ist jedoch, dass der ÖPNV bei einem Nulltarif auch stärker genutzt würde. Die Piraten haben das in ihrer Machbarkeitsstudie durchrechnen lassen. Demnach ist davon auszugehen, dass die Berliner im Jahr 2020 ungefähr 46 Prozent ihrer Strecken mit dem ÖPNV zurücklegen, wenn es keinen Nulltarif gibt. Mit Nulltarif wären es 53 Prozent. Bezahlbar wäre das etwa, wenn die meisten Bürger knapp 50 Euro pro Monat zahlen. Rund ein Drittel der Berliner bräuchte nur den ermäßigten Beitrag von 15 Euro zu entrichten, beispielsweise Auszubildende, Studenten, Wohngeld- und Hartz-IV-Empfänger. Für Menschen unter 18 Jahren wäre die Fahrt kostenlos. Touristen müssten pro Übernachtung 1,50 Euro zahlen.

„Das Modell soll so einfach wie möglich, aber sozial gerecht sein“, sagt Verkehrspolitiker Baum. Vorstellbar wäre alternativ auch eine Finanzierung mit Hilfe eines Beitrags, der sich an der Grunderwerbssteuer orientiert. „Bisher sind das nur Rechenbeispiele. Im Moment haben wir uns noch nicht entschieden, in den kommenden Monaten werden wir aber konkrete Anträge einbringen.“

Steuer oder Beitrag

Grundsätzlich gibt es zwei Varianten, den Nulltarif zu finanzieren: über Steuern oder über Beiträge. Steuern sind nicht zweckgebunden und fließen in den allgemeinen Haushalt der Stadt. Der Verkehrsclub VCD befürchtet in diesem Fall, dass die klammen Kommunen zu wenig Geld geben und das Angebot leidet. „Der ÖPNV steht dann in Konkurrenz zu Schulen, zu Theatern, zu Krankenhäusern, zur Flüchtlingsunterbringung“, sagt die Expertin Heidi Tischmann. „Da kommt der ÖPNV immer zu kurz.“

Eine Abgabe für den Nahverkehr ist für den VCD jedoch überlegenswert, weil sie eine zusätzliche Einnahmequelle darstelle. Zudem könnten in dem Fall mehr Menschen auf Bus und Bahn umsteigen. „Diejenigen, die das Angebot erst einmal durch eine Sonderzahlung individuell finanziert haben, wollen die daraus entstehenden Vorteile in der Regel auch für sich in Anspruch nehmen.“ Wobei das ein rein psychologischer Effekt ist, schließlich finanzieren die Bürger den Verkehr sonst über Steuern.

Rechtlich ist es möglich, alle Menschen zur Kasse zu bitten. Ein Beitrag wird – anders als die Gebühr – alleine für die Bereitstellung einer Leistung erhoben, unabhängig davon, ob sie tatsächlich in Anspruch genommen wird. Das bekannteste Beispiel ist der Rundfunkbeitrag. Den müssen auch Unternehmen zahlen. Das wäre beim ÖPNV ebenfalls zu überlegen. Schließlich profitieren auch Firmen vom Verkehrsangebot.

Eigentlich aber ist eine Steuer sinnvoller, weil sie automatisch sozial gestaffelt und unbürokratisch ist. Zudem wird sie gesellschaftlich eher akzeptiert als ein Beitrag, der gesondert gezahlt werden muss. Ist überhaupt zu vermitteln, dass Menschen für den Nulltarif-ÖPNV zahlen, wenn sie immer nur Rad fahren? Hier muss aufgeklärt werden, dass sie bereits jetzt über Steuern den Nahverkehr subventionieren. Darüber beschwert sich auch niemand.

Unklarer Umweltnutzen

Für die Umwelt ist der Nutzen des Nulltarifs nicht so leicht zu ermitteln. Schließlich steigen nicht nur Autofahrer um, sondern auch Radfahrer und Fußgänger, die sich ganz ohne Emissionen fortbewegen. Laut VCD fehlen bislang aussagekräftige Daten zur Verkehrsverlagerung, auch weil es bislang wenig Experimente mit dem Nulltarif gab.

In der belgischen Stadt Hasselt sollen 23 Prozent der Umsteiger vorher Auto oder Motorrad gefahren sein, 32 Prozent waren zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Letztlich kommt es darauf an, ob unterm Strich Abgase gespart werden. Der Umweltnutzen kann jedoch erhöht werden, wenn der Nulltarif mit zusätzlichen Maßnahmen verbunden wird. Dazu können breitere Radwege gehören oder teurere Parkplätze für Autos. In Hasselt wurde sogar die Innenstadt komplett für Autos gesperrt.

Fraglich ist jedoch, ob der Nulltarif die beste Methode ist, um Autofahrer zum Umsteigen zu bewegen. Bereits jetzt ist eine Pkw-Fahrt für den Einzelnen ungefähr fünfmal so teurer wie mit Bus oder Bahn, wenn man alle Kosten einbezieht – auch für Werkstatt, Versicherung und Wertverlust des Wagens. Am Geld liegt es also nicht. Das eigene Auto gehört vielmehr zum Alltag, ist oft noch ein Statussymbol. Doch gerade bei jüngeren Menschen ändert sich das.

Der VCD hat Autofahrer befragt, was sich ändern müsste, damit sie die Bahn nutzen. Der Preis kommt in dem Ranking der Prioritäten erst an sechster Stelle – nach Flexibilität, Zeitgewinn, Pünktlichkeit, Komfort und Verfügbarkeit. Das lässt darauf schließen, dass sich Menschen für den ÖPNV vor allem dann gewinnen lassen, wenn es mehr Linien gibt, einen höheren Takt, kürzere Umstiegszeiten, weniger Verspätungen.

Kommunismus erfahrbar machen

Wenn man es aus Klimaschützerperspektive betrachtet, muss man zudem sagen: Eigentlich setzt der Nulltarif falsche Anreize, weil mehr gefahren wird. Aus Klimaschutzgründen müsste der motorisierte Verkehr jedoch teurer werden, zum Beispiel durch eine CO2-Steuer oder einen funktionierenden Emissionshandel. Der Staat kann mit höheren Sozialleistungen sicherstellen, dass die Ärmeren nicht außen vor bleiben.

Solange aber Autofahren zu billig ist, muss auch der ÖPNV günstige Tarife anbieten. Ob es der Nulltarif sein muss oder staatliche Subventionen stärker in ein attraktiveres Angebot fließen sollten, wäre anhand der Fahrgastzahlen zu bewerten. Dazu müsste der Nulltarif aber erst mal in einer größeren Stadt ausprobiert werden. Tübingen und Osnabrück prüfen das bereits, vielleicht klappt’s ja auch in Berlin. Dann wird Kommunismus ein Stück weit erfahrbar. Das sollte Grund genug sein.

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