Im Jahr 2022 soll das deutsche Atomzeitalter sein Ende haben. Nach jetziger Gesetzeslage werden spätestens im Dezember die letzten Reaktoren abgeschaltet. Doch dann geht es erst richtig los: Stilllegung, Rückbau, Endlagerung des Atommülls. Eigentlich ist die Sache klar: Die Verursacher müssen zahlen. Doch was ist, wenn die Atomkonzerne pleitegehen? Wenn ihr Geld nicht ausreicht, um die immer teurer werdende Endlagersuche zu bezahlen? Oder wenn sie sich mit juristischen Tricks aus der Verantwortung stehlen? Der Allgemeinheit können Kosten in Milliardenhöhe entstehen.
Bislang waren es die üblichen Verdächtigen, die auf diese Gefahren aufmerksam gemacht haben. Umweltschützer fordern schon seit vielen Jahren einen öffentlich-rechtlichen Fonds, der von den Atomkonzernen das Geld einsammelt und sicher aufbewahrt. Doch nun wird auch in der Großen Koalition über eine solche Lösung nachgedacht, das Wirtschaftsministerium prüft verschiedene Optionen. Es ist aber noch lange nicht ausgemacht, ob es wirklich um die Interessen der Bürger geht oder ob es sich bloß um eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit handelt.
Eigentlich sollte die Sache klar sein: Die Reaktorbetreiber müssen „uneingeschränkt sämtliche Kosten“ für Rückbau und Entsorgung tragen, erklärt das Wirtschaftsministerium. Die Unternehmen haben daher Rückstellungen gebildet. Eon, RWE, EnBW und Vattenfall kommen zusammen auf insgesamt 37,6 Milliarden Euro. Ob das reicht, ist jedoch unklar. Gerade die Suche nach einem Endlager kann schnell teurer werden, sobald neue Standorte ins Auswahlverfahren aufgenommen werden.
Die Unternehmen können die Höhe der Rückstellungen sogar selbst festlegen. Anschließend wird das von Wirtschaftsprüfern kontrolliert, dann sollen die Finanzbehörden einen Blick auf die Rechnungen werfen. Das Deutsche Atomforum, der Lobbyverband der Nuklearindustrie, spricht daher auch von „rigorose Kontrolldichte“ und von „maximaler Transparenz“. Doch ausgerechnet diejenigen staatlichen Stellen, die für die Endlagerung des Atommülls zuständig sind, haben wegen des Steuergeheimnisses keine Einsicht. Von Umweltverbänden, die möglicherweise auf Missstände hinweisen könnten, ganz zu schweigen.
Keine klaren Kriterien
Zwar können Wirtschaftsprüfer und Finanzämter bei den zuständigen Behörden Auskünfte einholen, doch eigenen Sachverstand bringen sie nicht mit. Daher hat schon im Jahr 2010 der Bundesrechnungshof gerügt: „Der Bund und die Länder können die Höhe der Rückstellungen nicht sachgerecht beurteilen.“ Auch die Umweltschützer vom BUND kritisieren, dass die Berechnungen der Atomkonzerne undurchsichtig sind.
Sie haben zudem eine Studie zu den Rückstellungen in Auftrag gegeben. Die Ökonomen vom Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft rechnen darin vor, dass mindestens 48 Milliarden Euro nötig sind. Die Rückstellungen der Konzerne könnten im Prinzip sogar reichen – allerdings nur, wenn die Zinsen für das zur Seite gelegte Geld hoch genug sind und keine unvorhergesehenen Kosten hinzukommen. Bei der Untersuchung ist den Autoren aufgefallen, dass die Atomkonzerne offenbar sehr unterschiedlich handeln. Die einen rechnen mit höheren Kosten für den Rückbau der Kraftwerke, die anderen mit höheren Kosten für die Endlagerung. Nachvollziehbare Kriterien? Fehlanzeige.
Das Wirtschaftsministerium will die Rückstellungen nun einem „Stresstest“ unterziehen. Jahrelang blieb die Politik untätig, jetzt kommt Bewegung in die Sache. Woran liegt’s? Schon unter der rot-grünen Bundesregierung wurde über einen öffentlich-rechtlichen Fonds diskutiert, doch damals haben die Grünen das nicht durchgesetzt, weil ihnen der Atomausstieg wichtiger war. Inzwischen ist aber auch einigen Sozialdemokraten klar geworden, dass Handlungsbedarf besteht. Die großen Energiekonzerne haben wirtschaftliche Schwierigkeiten, nun zeigt sich, dass eine Insolvenz immer nur unmöglich schien, aber nie unmöglich war.
Außerdem ist bekannt geworden, dass Eon einen Konzernumbau plant: Der zukunftsträchtige Ökostrom-Bereich soll von Kohle und Atom getrennt werden. Die finanziellen Atom-Verpflichtungen hingen dann an einem relativ unprofitablen Überbleibsel des fossilen Energiezeitalters. Der Vattenfall-Konzern plant ebenfalls eine Umstrukturierung.
Zudem läuft im Jahr 2022 eine Vereinbarung aus, die dem Staat garantiert, dass die vier Energiekonzerne für alle Kosten ihrer jeweiligen Atom-Tochtergesellschaft aufkommen. Und vielleicht hat der Tatendrang in der Politik auch etwas mit Rainer Baake zu tun, dem neuen grünen Staatssekretär im SPD-geführten Wirtschaftsministerium, der zuvor bei der Deutschen Umwelthilfe gearbeitet hat.
Die Bundesregierung verhandelt bereits mit den Energiekonzernen, und das Wirtschaftsministerium hat ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis hat aber möglicherweise einigen Mitarbeitern missfallen. Die Studie ist auf den 10. Dezember datiert, monatelang wurde sie nicht veröffentlicht. Erst nachdem Medien darüber berichteten, kam sie auf die Website des Ministeriums. Die Experten warnen darin vor Risiken, dass die „finanzielle Vorsorge im Kernenergiebereich nicht ausreicht“ und „nicht auszuschließen ist, dass auf die öffentliche Hand erhebliche Kosten“ zukommen. Sie schlagen vor, dass die Konzerne für den Rückbau einen internen Fonds einrichten, der eine höhere Sicherheit im Insolvenzfall bieten soll. Für die Endlagerung solle es einen externen Fonds unter staatlicher Kontrolle geben.
Die Atomkonzerne haben einige finanzielle Privilegien zu verlieren. Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft beziffert die Vorteile von 1970 bis 2014 auf insgesamt 79 Milliarden Euro in heutigen Preisen. Dabei geht es jedoch nicht darum, dass die Rückstellungen als Ausgaben gelten und somit die heutige Steuerlast senken. Das ist vorteilhafter als wenn sie erst in einigen Jahren die Steuerlast senken, da man das gesparte Geld anlegen kann und es sich vermehrt. Dieser Vorteil bestünde jedoch auch bei einem externen Fonds, daher wird er vom Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft auch nicht näher untersucht.
Die in der Studie errechneten 79 Milliarden Euro haben die Konzerne vielmehr durch die sogenannte Binnenfinanzierung eingestrichen. Das Prinzip: Die rechtlich eigenständige Atomsparte legt ihre Rückstellungen nicht auf einer Bank an, sondern gibt einen Kredit an den Mutterkonzern. Der bekommt dadurch relativ günstiges Geld, denn der Zinssatz ist deutlich niedriger als auf dem freien Markt. Das bedeutet aber auch, dass bei dieser Kreditvergabe ein geringeres Risiko angenommen wird, als es in Wirklichkeit ist. Letztlich trägt also der Bürger ein Risiko, dass die Rücklagen am Ende weg sind – dafür kommt der Energiekonzern an billigeres Geld und kann dadurch seine Gewinne steigern.
Die Unternehmen haben also ein Interesse, das jetzige System beizubehalten. Trotzdem ging vor knapp einem Jahr ein bemerkenswerter Vorschlag von Eon, RWE und EnBW durch die Medien: Die Atomsparten und die Rückstellungen könnten komplett in staatliche Hand übergehen, dafür wären die Konzerne auch ihre gesamten Verpflichtungen los. Umweltschützer waren entsetzt, die Konzerne würden sich aus der Verantwortung ziehen.
Einen Vorteil habe diese „Bad Bank“ jedoch, sagt heute die atompolitische Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl: Sie „zeigt, dass die Atomkonzerne die Mittel grundsätzlich lockermachen können. Daher sollten diese jetzt so schnell wie möglich in einen öffentlich-rechtlichen Fonds überführt werden“ – ohne die Konzerne aus der Verantwortung für mögliche weitere Zahlungen zu entlassen. Von der Bundesregierung fordert sie Mut zu Reformen: „Es darf nicht sein, dass nur die Rückstellungen erhöht werden und sonst alles beim Alten bleibt.“
Ein bewährtes System?
Das wäre der Industrie wohl das Liebste. Das Atomforum hat 2008 eine Studie veröffentlicht, die Aussagen seien im Grundsatz nach wie vor gültig. Zu lesen ist unter anderem: „Das deutsche Rückstellungssystem für die Kernenergie bewährt sich seit Jahrzehnten.“ Strom brauche „jeder und auf Dauer“, daher sei auch der Fortbestand der Unternehmen absolut sicher. Die Situation sei auch nicht mit der Versicherungswirtschaft vergleichbar. Dort gelten besonders strenge Anlagevorschriften, davon will man beim Atomforum nichts wissen.
Als großer Vorteil des Rückstellungssystem wird angeführt, dass der gesamte Konzern hafte und nicht bloß auf die eingezahlten Mittel im Fonds zurückgegriffen werden könne. Wenn es so wäre, müssten die Konzerne jedoch ein Interesse am Fondsmodell haben. In Wirklichkeit diskutiert die Politik jedoch über einen Fonds und will trotzdem die Verantwortung für mögliche Nachzahlungen bei den Konzernen belassen. Das jedoch wäre aus Sicht der Atomforum-Studie rechtlich schwierig: „Erst wird den Unternehmen die Verfügungsbefugnis über die Finanzmittel entzogen und danach sollen sie für die unzureichende und fehlerhafte Verwaltung durch staatliche Verwalter haften.“ Worüber sich das Atomforum empört, ist aber unumgänglich. Schließlich kann man genau umgekehrt argumentieren: Wenn es so bleibt wie bisher, muss der Staat am Ende für die unzureichende Verwaltung der Mittel haften, obwohl er selbst keinen Einfluss darauf hat.
Es gibt eine Lösung: die Bad Bank, auch wenn sie bei Umweltschützern verhasst ist. Natürlich müssten realistische Kosten für Rückbau und Endlagerung angesetzt werden – und ein Risikopuffer für mögliche Kostensteigerungen. Unter dem Strich kann der Staat sogar finanziell profitieren, wenn der Puffer am Ende nicht benötigt wird.
Irgendwann werden die Konzerne sowieso aus ihrer Verantwortung entlassen, schließlich wird es sie in tausend Jahren vermutlich nicht mehr geben, aber den Atommüll schon. Warum also nicht jetzt Verpflichtungen und Geld auf den Staat übertragen? Dann könnte endlich eine ordentliche Endlagersuche beginnen. Bisher krankt sie daran, dass die Atomindustrie aus finanziellem Eigeninteresse verhindert, dass noch weitere Standorte neben Gorleben ausführlich untersucht werden. Das wäre mit einem Bad-Bank-Deal auf einmal problemlos möglich. Zudem könnte der Staat einige Atomkraftwerke vorzeitig abschalten, wenn die Kraftwerke in sein Eigentum übergegangen sind. Bezahlte Atomlobbyisten gäbe es auch nicht mehr.
Ist es denn so gut, wenn der Staat für Rückbau und Endlagerung zuständig ist und sich selbst kontrollieren soll? Es muss eine Abteilung für die Durchführung und eine für die Aufsicht geben, sie sollten so unabhängig wie möglich voneinander sein. Grundsätzlich ist es aber sinnvoll, wenn der Staat die Aufgaben übernimmt, immerhin vertritt er die Interessen aller Bürger und nicht nur die von wenigen Aktionären. Das ist wichtig, wenn es darum geht, ein sicheres Endlager für Millionen von Jahren zu finden. Ob die Atomkonzerne ein paar Milliarden Euro gespart haben, wird in ein paar Generationen niemand mehr fragen. Aber bestimmt will jemand wissen, ob wir alles getan haben, um das beste Endlager zu finden.
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