Die vergessenen Verlierer

Weltwirtschaft Unter den globalen Folgen des Freihandels-Abkommen TTIP würden die Entwicklungsländer besonders leiden. Es geht um Fragen von Leben und Tod
Ausgabe 16/2015

Es war eine demokratische Entscheidung. Als immer mehr Menschen in Uruguay am Rauchen starben, beschloss das dortige Parlament: Wir wollen den Tabakkonsum zurückdrängen, mit großen Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln. Das war vor rund zehn Jahren. Dann kam Philip Morris. Der Tabakkonzern verklagt seit 2010 das südamerikanische Land. Ein privates, nicht demokratisch legitimiertes Schiedsgericht soll hinter verschlossenen Türen aushandeln, ob das Gesetz bleiben darf oder es die Investitionen des Tabakkonzerns unzulässig einschränkt. Philip Morris will Schadenersatz. Die Klageschrift ist nicht öffentlich. Manche Medien berichten von 25 Millionen Dollar Schadenersatzforderung, andere von bis zu zwei Milliarden. Das wäre ungefähr ein Sechstel des uruguayischen Staatshaushalts.

Vor kurzem hat das Online-Netzwerk Avaaz eine Unterschriftensammlung gegen die Klage gestartet. Was Avaaz in dem Protestaufruf nicht erwähnt: Die privaten Schiedsgerichte könnten bald weltweit zum Standard werden, wenn TTIP kommt. Die EU und die USA verhandeln seit Jahren über das Freihandelsabkommen. Gewerkschaften, Umwelt- und Verbraucherschützer befürchten niedrigere Standards auf beiden Seiten des Atlantiks und laufen Sturm. Daneben gibt es aber noch die vergessenen Verlierer – die Ärmsten der Armen, die Entwicklungsländer.

Für sie geht es nicht nur um eine Verschlechterung von Standards, teilweise berühren die bei TTIP verhandelten Themen in diesen Ländern Fragen von Leben und Tod. Dort drohen existenzgefährdende Einkommensverluste für Kleinbauern, teures Trinkwasser, unbezahlbare Medikamente. Obwohl auch die Entwicklungsländer von den direkten und indirekten Folgen des Abkommens stark betroffen sind, bleiben sie außen vor und erfahren nicht, was die EU und die USA im Geheimen verhandeln.

Experten schlagen Alarm

Vor wenigen Wochen sind die Gegner des Abkommens weltweit auf die Straße gegangen. Im internationalen Aufruf heißt es ganz allgemein: „Mensch und Umwelt vor Profit!“ Attac Deutschland geht zumindest mit einem Satz auf die Entwicklungsländer ein: „Am härtesten trifft das ungerechte Welthandelssystem noch immer die Menschen in den Ländern des Südens.“ Doch diese Botschaft kommt in der Öffentlichkeit nicht an. Die Medien interessieren sich bislang weit mehr für die Veränderungen hierzulande.

Experten schlagen jedoch Alarm. Sven Hilbig ist Referent für Handel bei der Hilfsorganisation Brot für die Welt und meint, dass die Entwicklungsländer durch das Abkommen höchstwahrscheinlich ins Hintertreffen geraten: „TTIP birgt die Gefahr, die in der Vergangenheit gemachten Fortschritte in den Nord-Süd-Beziehungen zu unterminieren.“ Die Organisation Foodwatch bezeichnet TTIP sogar als „echtes Armutsprogramm für die ärmsten Länder der Welt“.

Wenn das Freihandelsabkommen kommt, werden die EU und die USA einen Wirtschaftsraum bilden, der 800 Millionen Verbraucher und fast die Hälfte der weltweiten Wertschöpfung umfasst. Wenn hier neue Regeln aufgestellt werden, kommen andere Länder nicht daran vorbei. Wenn hier die Handelsströme umgelenkt werden, betrifft das auch den Rest der Welt. Die Entwicklungsländer werden das massiv spüren.

Das hat inzwischen auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) gemerkt. „Wir müssen die Entwicklungsländer am Diskussions- und Gestaltungsprozess des TTIP-Abkommens beteiligen und es so gestalten, dass sie vom Handel noch stärker profitieren als bisher“, sagt er. Laut taz hat er sogar versprochen, dem Abkommen nur zuzustimmen, wenn die Entwicklungsländer nicht darunter leiden. Ein Ministeriumssprecher bleibt auf Nachfrage hingegen vorsichtig: Im Moment gehe es darum, dass die legitimen Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt werden. „Daran wird sich ein Abkommen messen lassen müssen.“

Relativ harmlos?

Blockieren will der Entwicklungsminister das TTIP-Abkommen aber anscheinend nicht, wenn seine Kabinettskollegen dafür sind. Müller hat eine Studie beim wirtschaftsnahen Münchner ifo-Institut in Auftrag gegeben. Dabei hatte sich zuvor bereits das staatseigene Deutsche Institut für Entwicklungspolitik mit dem Thema befasst, und vergleichsweise kritische Statements abgegeben.

Doch der Auftrag ging nach München. Und wie bestellt, so geliefert. „Mit dieser Studie geben wir Entwarnung“, sagte der Studienleiter Gabriel Felbermayr bei der Vorstellung Ende Januar. „Die Auswirkungen auf Entwicklungs- und Schwellenländer sind relativ harmlos.“ Eine gewagte Interpretation.

Die Studie geht davon aus, dass durch TTIP das durchschnittliche Einkommen in der EU und den USA steigt und damit auch die Nachfrage nach Waren aus Entwicklungsländern. Andererseits könnte es für die ärmeren Länder schwieriger werden, ihre Produkte auf dem EU-Markt abzusetzen, wenn dort die Handelsbarrieren für konkurrierende US-Firmen fallen. Unter dem Strich gebe es Gewinner und Verlierer. „Tendenziell negativ betroffen sind beispielsweise Exporteure von Bekleidung, Schuhen oder Zitrusfrüchten.“ Für 42 bis 80 Prozent der Drittländer wird vorhergesagt, dass die Realeinkommen leiden. Die Verluste fallen angeblich jedoch nicht so ins Gewicht, weil die Wirtschaft ohnehin wachsen werde – nur eben nicht mehr so stark.

Besonders pikant: Das ifo-Institut hatte bereits im Jahr 2013 eine Studie erstellt, damals für die Bertelsmann-Stiftung. Und 2013 war der Ton ein anderer: Entwicklungsländer wurden als „die großen Verlierer“ bezeichnet, die mit dramatischen Einbußen rechnen müssten. Die stärksten Einkommensverluste wurden für die afrikanischen Länder Guinea und die Elfenbeinküste prognostiziert. In der Studie für das Entwicklungsministerium fehlen diese Länder.

Die Spielregeln des 21. Jahrhunderts

Nichtregierungsorganisationen haben weitere Kritikpunkte. Mit der Studie werde die Wirkung von TTIP „spekulativ ins Positive verdreht“, heißt es beim Forum Umwelt und Entwicklung. Die Landwirtschaft werde weitgehend ausgeblendet. Wenn Kleinbauern in Kenia ihre Produkte nicht mehr in die EU verkaufen könnten, helfe ihnen ein Wachstum im Tourismus-Sektor auch nicht weiter. Die „entwicklungspolitische Bedeutung“ einzelner Produkte werde vom ifo-Institut nicht berücksichtigt. „Außerdem zementiert die Studie das nicht mehr haltbare Bild, Wirtschaftswachstum biete die entscheidende Lösung für die Probleme der Welt.“

In der Tat geht es bei TTIP um mehr als Wirtschaftswachstum und Handelsströme. Entwicklungsminister Müller sagt: „Wir wollen ökologische und ökonomische Mindeststandards für die gesamte Welt setzen.“ Und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) beschwört die Angst vor China, um das Abkommen durchzuboxen. „Ich bin sicher, dass die Standards, die Europa mit den USA (...) verabredet, bessere sein werden als die Standards, die China und Asien mit den USA verabreden werden.“

Eines zeigt sich in den Äußerungen: Es geht um die Hegemonie von EU und USA in der Welthandelspolitik. Hier werden die Spielregeln des 21. Jahrhunderts bestimmt. Die Ex-US-Außenministerin und aussichtsreiche Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton hat TTIP bereits als „Wirtschafts-NATO“ bezeichnet.

Teure Medikamente, teures Wasser

Wenn die TTIP-Regeln künftig zum Vorbild für Abkommen in aller Welt werden, was bedeutet das für Entwicklungsländer?

Erstens: Geistiges Eigentum wird stärker geschützt, so könnten Mindestlaufzeiten für Patente festgelegt werden. Das hätte fatale Folgen für die Ärmsten. Philipp Frisch von Ärzte ohne Grenzen berichtet, dass Medikamente gegen HIV/Aids im Jahr 2000 mehr als 10.000 US-Dollar pro Jahr gekostet haben. In ärmeren Ländern gab es praktisch keine Behandlung, weil die patentgeschützten Mittel zu teuer waren. Dann hat Indien begonnen, billige Nachahmungspräparate herzustellen, sogenannte Generika. Dadurch sind die Preise rapide gesunken, heute kosten die gleichen Medikamente nur noch rund 60 US-Dollar, mehr als elf Millionen Menschen können so behandelt werden. „Das hängt damit zusammen, dass aus einem Monopolmarkt ein Konkurrenzmarkt geworden ist. Ohne die Generika aus Indien wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Frisch.

2005 hat Indien dann ein Abkommen zum Schutz geistiger Eigentumsrechte umgesetzt. Viele der neueren Medikamente sind daher patentgeschützt, wodurch die Behandlung laut Ärzte ohne Grenzen bis zu 15 Mal teurer sein kann als mit älteren Medikamenten.

Übrigens werden fast alle Patente von Unternehmen im globalen Norden gehalten.

Zweitens: Privatisierungen werden befördert. Wenn öffentliche Dienstleistungen wie Stromversorgung oder Krankenhäuser erst einmal von privaten Unternehmen übernommen wurden, kann eine Wiederverstaatlichung durch den Vertrag unmöglich werden. Zwar sind Ausnahmen im Gespräch und die EU-Kommission beteuert, dass etwa eine Wasserprivatisierung nicht zur Debatte stehe, doch Kritiker trauen ihr nicht. Eine Studie verweist darauf, dass die EU in den Verhandlungen mit Kanada über das CETA-Abkommen gefordert habe, die Ausschreibungen auf dem dortigen Wassermarkt für EU-Unternehmen zu öffnen.

Entwicklungsländer haben damit bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Amnesty International berichtet, dass Bolivien 1999 den Wasserversorger Semapa an ein Konsortium unter Führung des US-Konzerns Bechtel verkauft hat. Das Wasser wurde daraufhin bis zu drei Mal so teuer, einige Brunnen wurden zugemacht. Nach heftigen Protesten kam das Wasser 2000 wieder in öffentliche Hand.

Industriestaaten im Vorteil

Drittens: Ausfuhrzölle werden gesenkt. Zunächst zwischen der EU und den USA, bald aber womöglich auch global. In den Verhandlungen zwischen der EU und den sogenannten AKP-Staaten – vor allem afrikanische Länder – spielt das eine wichtige Rolle, wie Sven Hilbig von Brot für die Welt berichtet. Die Entwicklungsländer wollen sich ihr Recht nicht nehmen lassen, durch Exportbeschränkungen gewisse Rohstoffe im Land zu halten, etwa um eine Industrie aufzubauen. Außerdem wollen sie nicht auf die Einnahmen durch Zölle verzichten. Sobald aber die transatlantischen Handelshemmnisse abgebaut sind, stärkt das die Verhandlungsposition der EU.

Viertens: Private Schiedsgerichte entscheiden über Gesetze. Schon heute sind solche Klärungsstellen für Investitionsstreits in vielen Abkommen verankert. Mit TTIP werden die umstrittenen Schiedsgerichte aber zum weltweiten Standard. Entwicklungsländer leiden darunter besonders, wie eine Statistik der Vereinten Nationen zeigt. Die klagenden Unternehmen kommen in 85 Prozent der Fälle aus Industrieländern, verklagt werden Industrieländer aber nur in 27 Prozent der Fälle. Meist müssen sich Entwicklungsländer verantworten und mit Millionenstrafen rechnen, die für sie weitaus gravierender sind als für Industriestaaten.

Im Streit zwischen Philip Morris und Uruguay ist das Urteil noch nicht gesprochen. Vielleicht lässt sich das Schiedsgericht von den Unterschriften beeindrucken, vielleicht nicht. Eins ist aber klar: Wenn TTIP kommt, wird Avaaz im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten im Welthandel zahllose Kampagnen mehr starten müssen.

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