Die ersten Meldungen der Nachrichtenagenturen kamen noch ohne das Unglück aus. Die dpa schrieb von „Schiffbruch“, bei AFP war von einem „Flüchtlingsdrama“ die Rede und Reuters vermeldete ganz nüchtern den „Untergang eines Flüchtlingsbootes“. Doch es dauerte nicht lange, da berichteten die Medien über das „Unglück“ der hunderten Flüchtlinge, die vor Lampedusa im Meer ertranken. Passt dieser Begriff?
Zwar hat sich niemand den Tod der Flüchtlinge gewünscht, doch die europäischen Innenpolitiker mit ihrer Abschottung haben ihn zu verantworten. Bei einem Unglück hingegen gibt es keine Schuldigen, nur Opfer einer höheren Gewalt.
Die Macht der Worte
Wenn in der Öffentlichkeit tagelang über das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer diskutiert wird, geht es nicht nur um die Macht der Bilder, sondern auch um die Macht der Worte. Wie reden, wie denken wir über das, was an den Außengrenzen von Europa passiert?
Die alltägliche Sprache ist von den herrschenden Deutungsmustern geprägt und meist übernehmen wir sie unbewusst: die Worte und mit ihnen die (Be)Deutungen. Auch wenn wir damit die Kritik an der Abschottungspolitik unabsichtlich konterkarieren – wie in der aktuellen arte-Dokumentation über die europäische Flüchtlingsabwehr.
Die knapp einstündige Sendung „Festung Europa“ sollte ursprünglich am Dienstagabend, kurz vor Mitternacht ausgestrahlt werden. Doch dann kam die Katastrophe von Lampedusa und sie wurde schon um 22.15 Uhr ausgestrahlt (und kann nun sieben Tage lang in der Mediathek angesehen werden). Die Doku schlägt sich zwar nicht eindeutig auf die Seite der Flüchtlinge, aber sie steht der europäischen Grenzagentur Frontex eher kritisch gegenüber.
Schutzbedürftige Grenzen
Im Film kommt die Polizei genauso zu Wort wie Menschenrechtsaktivisten, Flüchtlinge und deren Angehörigen. Berichtet wird über griechische Auffanglager, in denen es an Dolmetschern und Anwälten fehlt, in denen 25 Frauen in einen Raum mit gerade mal vier Betten gepfercht werden. Am Ende empfiehlt ein muslimischer Geistlicher, den Flüchtlingen doch Visa zu gewähren, damit diese in den europäischen Ländern Asyl beantragen können und nicht ihr Leben zu riskieren brauchen. Der Abschlusskommentar der Filmemacher: „Die Politik will etwas ganz anderes: die Grenzen dichtmachen. Und Frontex hilft dabei.“
Die Doku hilft auch dabei – durch ihre Sprache. Es geht los mit der Übernahme der offiziellen Selbstbezeichnung von Frontex als „Grenzschutzagentur“. Nicht die Flüchtlinge sind also schutzbedürftig, sondern die Grenzen. Würde Frontex nicht treffender beschrieben mit dem Begriff „Grenzüberwachungsagentur“? Wem das zu lang ist: Grenzagentur.
Die griechische Präfektur Evros wird in dem Film als „eines der zentralen Einfallstore für illegale Flüchtlinge“ bezeichnet. Dadurch entsteht ein Bild von Ausländern, die wie Wilde in Europa „einfallen“. Man könnte einfach von einem „Eingangstor“ sprechen, wie es ein Vertreter des UN-Flüchtlingbehörde UNHCR tut.
In der Doku ist auch von einem „Flüchtlingsstrom“ die Rede, der fast schon so gefährlich klingt wie die „Flüchtlingswelle“ (diese Vokabel wird glücklicherweise nicht bemüht). Strom heißt: Es sind irgendwie viele Menschen, die aber gar nicht individuell wahrgenommen werden. Und: Ein Strom lässt sich schwer kontrollieren.
Von Illegalen und Schleppern
Was natürlich auch nicht fehlen darf: Die „illegalen Flüchtlinge“ sowie die „Schlepper“ und „Schleuser“. Inzwischen hat selbst die Nachrichtenagentur AP erkannt, dass ein Mensch zwar illegale Dinge tun, aber nicht an sich illegal sein kann. In der linken Szene spricht man daher von „Illegalisierten“, und wer es etwas neutraler mag, kann sich an Frankreich ein Beispiel nehmen: Dort werden die Menschen ohne geregelten Aufenthalt einfach „sans-papiers“ genannt, was man gut mit „Papierlose“ übersetzen kann.
Die Schlepper könnte man besser als „Fluchthelfer“ bezeichnen. Man muss ihre Methoden nicht gut finden, und es gibt sicherlich unter ihnen viele Abzocker, wie in jedem anderen illegalen Gewerbe. Aber es bleibt festzuhalten, dass sich die Flüchtlinge freiwillig an die „Schlepper“ wenden. Und geschleppt werden normalerweise auch eher Gegenstände als Menschen.
Völlig fehl am Platze ist auch der Begriff des „Menschenhandels“, der im Film aus dem Mund eines Polizisten kommt, aber unwidersprochen bleibt. Fakt ist: Die Menschen, die angeblich gehandelt werden, wollen selber nach Europa kommen. Zumindest sind es diese Menschen, um die es in der arte-Dokumentation geht.
Und dann ist da noch die Frage der Perspektive: Wenn die Polizei Flüchtlinge aufspürt, erklärt in der Doku der Sprecher: „Endlich kann der Polizeichef Erfolge vorweisen“. Später heißt es, ohne die Zusammenarbeit der EU mit afrikanischen Staaten könne Frontex „nicht erfolgreich agieren“. Alles eine große Erfolgsgeschichte?
Es scheint vielleicht etwas pingelig, jeden einzelnen Begriff zu kritisieren. Aber ohne den Kampf um die Sprache ist der Kampf um das Denken nicht zu gewinnen. Und dadurch auch nicht der Kampf um eine gerechtere Flüchtlingspolitik.
Problematische Begriffe im Überblick:
- Unglück
- Grenzschutzagentur
- Einfallstor
- Flüchtlingsstrom / Flüchtlingswelle
- Illegale
- Schlepper / Schleuser
- Menschenhandel
Die arte-Dokumentation "Festung Europa" kann sieben Tage lang in der Mediathek angesehen werden
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