Demokratie ohne Hürde

Urteil Das Bundesverfassungsgericht hat die Drei-Prozent-Hürde zur Europawahl gekippt. Das Urteil war abzusehen – und die einzig richtige Entscheidung im Sinne der Demokratie

Die Politik musste sich ja unbedingt noch eine blutige Nase holen. Schon im Jahr 2011 wurde die Fünf-Prozent-Klausel bei der Europawahl vom Bundesverfassungsgericht bemängelt. Im vergangenen Jahr errichtete dann die ganz große Koalition aus Union, FDP, SPD und Grünen eine neue Hürde, diesmal nur bei drei Prozent. Jetzt wurde auch die von den Karlsruher Richtern kassiert.

Das Urteil war abzusehen – auch für die Bundesregierung. Das Innenministerium war in einer internen Expertise aus dem Jahr 2011 zu dem Ergebnis gekommen, dass eine 2,5-Prozent-Klausel unzulässig sei – das war der Behörde offenbar so peinlich, dass sie hinterher versuchte, die Veröffentlichung der Expertise zu verhindern.

Selbst erfüllende Prophezeiung

Das aktuelle Urteil aus Karlsruhe ist die einzig vernünftige Entscheidung im Sinne der Demokratie. Jede Klausel benachteiligt die kleinen Parteien und verzerrt das Ergebnis. Hunderttausende Stimmen fallen unter den Tisch. Das haben die Karlsruher Richter im Urteilsspruch nochmal hervorgehoben: Die Klausel verstoße gegen die "Wahlrechtsgleichheit" – also den Grundsatz, dass jede Stimme den gleichen Einfluss hat – und gegen die "Chancengleichheit der politischen Parteien".

Die Hürde verleitet auch zu taktischem Wählen: Selbst wenn eigentlich mehr als drei Prozent der Bürger eine Partei wählen wollen, wechseln viele zu ihrem Zweitwunsch – aus Angst, ihre Stimme zu verschenken. Am Ende ist das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Es kann natürlich auch anders herum kommen: Wenn Bürger eine Partei über die Hürde hieven wollen, geben sie ihre Stimme vielleicht an diese Partei, obwohl sie eigentlich eine andere bevorzugen.

Zersplitterung?

Das Bundesverfassungsgericht ist nicht generell gegen eine Hürde. Doch die Klausel sei nur dann gerechtfertigt, wenn sonst zum Beispiel die Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigt werde. "Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Bewertung sind die tatsächlichen Verhältnisse", sagte der Vorsitzende Richter Andreas Voßkuhle.

Und die Verhältnisse sind eindeutig: Wer glaubt, ohne Hürde würde in Brüssel das Chaos ausbrechen, hat das Europaparlament noch nie von innen gesehen. Zersplitterung? Derzeit sind dort 162 Parteien vertreten, da kommt es auf drei mehr oder weniger auch nicht an. Die Abgeordneten schaffen es auch so, Bündnisse über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg zu schmieden. Das Parlament ist voll handlungsfähig.

Karlsruhe hat auch klargestellt: Sollte sich an der Situation etwas ändern, kann der Bundestag immer noch eine Klausel beschließen. Präventiv ist das aber nicht zulässig.

Wer kommt jetzt rein?

Unklar ist, warum es in Deutschland eine Klausel geben sollte, in anderen Ländern aber nicht. Wenn es wirklich darum ginge, weniger Parteien im Parlament zu haben, dann müssen europäische Listen eingeführt werden. Das würde auch die Abgeordneten von nationalen Interessen etwas emanzipieren. Sie bräuchten nicht darauf zu hoffen, für die nächste Wahl von ihrer nationalen Partei wieder aufgestellt zu werden.

Was ändert sich nun? Die Piraten und die AfD sind sicher in Brüssel vertreten, und auch zum Beispiel die NPD wird es wohl ins Parlament schaffen. Das muss aber gar kein Nachteil sein. Auf rechtsextreme Hetze können wir zwar gerne verzichten, aber immerhin kann sich die Politik jetzt nicht mehr hinter der Drei-Prozent-Hürde verstecken. Sie kommt nun um eine Auseinandersetzung mit dem rechten Gedankengut nicht herum. Und das ist der einzige Weg, es wirksam zu bekämpfen. Allein dafür sollte man Karlsruhe danken.


AUSGABE

Dieser Artikel ist eine Langversion eines Beitrags aus Ausgabe 9/14 vom 27.02.2014

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