Deutschlands Zukunft lesen

Koalitionsvertrag Das Regierungsprogramm von Union und SPD ist 185 Seiten lang und enthält einige Überraschungen. Eine etwas andere Rezension mit den wirklich wichtigen Fakten
Das Meisterwerk. Wird es zum Klassiker?
Das Meisterwerk. Wird es zum Klassiker?

Foto: Imago / Bonn-Sequenz

Die Pointe war clever. Als CSU-Chef Horst Seehofer in der Bundespressekonferenz gefragt wird, ob er denn den Koalitionsvertrag vollständig gelesen habe, antwortet er: "Ich kenne eine Person, die hat den auf jeden Fall gelesen." Seehofer lacht, die Journalisten auch. Dann setzt er nach: "Die ist aber nicht im Raum."

Den meisten SPD-Mitgliedern ergeht es wohl ähnlich. Die wenigsten dürften die 185 Seiten von vorne bis hinten gelesen haben. Noch bis heute nacht um 24 Uhr können alle Sozialdemokraten abstimmen über die Koalitionsvereinbarung mit dem Titel "Deutschlands Zukunft gestalten". Wer sie noch nicht gelesen hat, sollte sich beeilen: Es dauert etwa neun Stunden.

Als Service für alle beschäftigten SPD-Mitglieder – aber auch für alle anderen Bürger, die wissen wollen, was in den kommenden vier Jahren auf sie zukommt – stellt diese Rezension die wichtigsten Informationen zusammen.

Sie ist mindestens genauso gut geliedert wie der Koalitionsvertrag selbst.

1. Der Spannungsbogen

Die Erzähldramaturgie könnte man – wie würde es die Koalition formulieren? – "noch weiter verbessern". Die Vereinbarung beginnt mit fünf Seiten Inhaltsverzeichnis und sechs Seiten Vorwort. Gibt man das Vorwort in das "Blabla-Meter" ein, so erhält man dieses Ergebnis: "Ihr Text riecht schon deutlich nach heißer Luft – Sie wollen hier wohl offensichtlich etwas verkaufen oder jemanden tief beeindrucken. Für wissenschaftliche Arbeiten wäre dies aber noch ein akzeptabler Wert (leider)."

Und was kommt ganz am Ende vom inhaltlichen Teil des Koalitionsvertrags? Die Entwicklungszusammenarbeit.

2. Die Kernaussage

Die Botschaft des Koalitionsvertrags ist gut verschlüsselt. "Aussagen durch Weglassen", so könnte man dieses einzigartige literarische Genre vielleicht nennen. Es kommt darauf an, was nicht drin steht. Daher gibt es auch eine perfekte Lektürehilfe: die politischen Lobbyverbände. Sie verraten gerne, was fehlt: der sofortige Atomwaffen-Abzug aus Deutschland, die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung oder der gleichberechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt auch für Asylsuchende.

Nachteil dieses Genres: Ohne die kritischen Stimmen von NGOs, Verbänden und Institutionen liest sich der Koalitionsvertrag wie ein schönes Märchen.

3. Die Protagonisten

Die Hauptrolle ist schon besetzt: Angela Merkel. Wer sonst zur Realisierung beiträgt, ist jedoch unklar. Das Kabinett soll erst nach dem SPD-Basisentscheid bekannt gegeben werden.

4. Die beliebtesten Motive

Im Koalitionsvertrag werden ausgewählte Motive immer wieder verwendet. Die Top-Rangliste: 1.126 Dinge "werden" die Parteien machen, 448 Dinge "wollen" sie machen, und 129 Dinge sollen "geprüft" werden. 217 Mal ist von "Stärke" oder "stärken" die Rede, nur 3 Mal von "Schwäche".

Insgesamt scheint es Deutschland ziemlich "gut" zu gehen, dieses Wort erscheint 104 Mal. Ganz hoch im Kurs ist auch "wachsen" und das "Wachstum" (92) sowie "nachhaltig" (69). In Zukunft soll zudem vieles "angemessen" (41) oder "geeignet" (24) sein.

Die Koalition setzt auf Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau: Angesprochen werden immer die Bürgerinnen und Bürger.

Auch sonst wird auf die korrekte Schreibweise geachtet. Es gibt "Menschen mit Zuwanderungsgeschichte", und bei der Wahl zwischen den Begriffen "Leiharbeit" und "Zeitarbeit" – sie stehen beide für das gleiche Arbeitsverhältnis – hat sich die Koalition für das in Gewerkschaftskreisen gebräuchliche Wort der Leiharbeit entschieden.

Eine Frage nur: Was soll "Armutswanderung" (S. 108) sein? Seit wann kann die Armut wandern gehen?

Besondere Vorsicht ist bei folgenden Begriffen geboten: Förderprogramme sollen "auskömmlich" fortgeführt werden, die Belastungen für die Bevölkerung sollen "angepasst" werden, politische Projekte sollen "entsprechend der vorhandenen Mittel" umgesetzt werden.

5. Die Verständlichkeit

Glaubt man der Wissenschaft, so ist der Koalitionsvertrag für die meisten Menschen kaum zu verstehen. Der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim hat den Text einer Software-Analyse unterzogen. Ergebnis: Auf einer Skala von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) erreicht die Vereinbarung zwischen Union und SPD gerade mal: 3,48. Dieser Wert liegt angeblich unter dem einer politikwissenschaftlichen Doktorarbeit (4,7).

Ein Beispiel aus dem Vertrag gefällig? Auf Seite 67 heißt es: "Um sich widersprechende Entscheidungen von Gerichten unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten zu vermeiden, wird die Zuständigkeit für die Überprüfung von AVE nach dem Tarifvertragsgesetz und von Rechtsverordnungen nach dem AentG und AÜG bei der Arbeitsgerichtsbarkeit konzentriert."

Allerding: Ein verständlicher Text wäre wahrscheinlich noch länger ...

6. Pointen und Überraschungen

Die grobe Handlung des Koalitionsvertrags war schon in allen Zeitungen nachzulesen. Aber es gibt auch interessante Details.

Witziges:

Endlich: "Bei der EU-Flüchtlingspolitik fordern wir mehr Solidarität", heißt es auf Seite 109. Der Satz ist aber noch nicht zu Ende: "unter den EU-Mitgliedsstaaten." Ansonsten taucht das Wort "Solidarität" im Abschnitt über Flüchtlingspolitik kein einziges Mal auf.

Was "stellt die größte Bürgerbewegung Deutschlands dar"? Auf Seite 137 wird es verraten: der Sport! Hätte man auch alleine drauf kommen können, wo bewegen sich sonst so viele Bürger?

Über Homosexuelle wird, etwas peinlich-verklemmt, erklärt: "Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind." (S. 105) Vielleicht sollten sich Lesben und Schwule zu Religionsgemeinschaften erklären? Über die ist Positiveres zu lesen: Sie "bereichern das gesellschaftliche Leben und vermitteln Werte, die zum Zusammenhalt unserer Gemeinschaft beitragen." (S. 113)

Gut, das nochmal gesagt zu haben: "Der Bund bekennt sich zum Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg BER." (S. 46)

Eine weitere Wunschvorstellung: "Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit müssen Merkenzeichen der Bahn sein." (S. 42)

Und noch eine: "Dabei fördern wir ... einen zeitgemäßen Informatikunterricht ab der Grundschule." (S. 30)

Und das hätten viele Bürger wohl für eine Selbstverständlichkeit bei Atomanlagen gehalten: "Der Schutz der Kraftwerke und Abfalllager vor Sabotage- und Terrorakten ist auf rechtssicherer Grundlage sicherzustellen." (S. 59)

Praktisches:

Schnelles Internet in ganz Deutschland soll es spätestens im Jahr 2018 geben. Zudem soll es in Städten möglichst offene W-Lan-Netze geben (S. 48).

Im öffentlichen Personen-Nahverkehr will die Bundesregierung "die bundesweite Einführung des Elektronischen Tickets" unterstützen (S. 44).

Stromsparen leicht gemacht: "Wir werden die kostenlose Energieberatung für Haushalte mit niedrigem Einkommen ausbauen." (S. 52)

Bei Maklern gilt jetzt das simple Prinzip: "wer bestellt, der bezahlt." (S. 115)

Unbeachtetes:

Linke und Rechte sind doch alle gleich? "Extremistischen ... Handlungen treten wir entschieden entgegen." (S. 11)

Das Bruttoinlandsprodukt kriegt eine Schwester: Die Koalition will ein "Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland entwickeln" (S. 15).

Anonyme Kommunikation im Internet soll möglich bleiben: "Wir sprechen uns gegen einen allgemeinen Klarnamenzwang aus" (S. 143).

Die Sicherungsverwahrung wurde gerichtlich verboten, nun kommt die "nachträgliche Therapieunterbringung" (S. 145) ohne Gerichtsurteil für besonders gefährliche Straftäter.

7. Die Autoren

Geschrieben wurde das Meisterwerk von einem Autorenkollektiv. Die einzelnen Beiträge sind dabei nicht namentlich gekennzeichnet. Das Autorenverzeichnis findet sich unter anderem auf Wikipedia.

8. Fazit

Der Koalitionsvertrag wird ein Klassiker – zumindest bis zum Nachfolge-Band.

Den Koalitionsvertrag gibt's auf der Seite der CDU als pdf und auf welt.de als Text.

Felix Werdermann hat den Koalitionsvertrag von vorne bis hinten gelesen – und mindestens die Hälfte schon wieder vergessen

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