Eigentlich ist das Ergebnis klar: Die Berliner haben abgestimmt über den Rückkauf des Stromnetzes durch die Stadt und 83 Prozent der Teilnehmer votierten dafür. So eine deutliche Mehrheit wäre bei einer Parlamentswahl unvorstellbar. Trotzdem ist der Volksentscheid gescheitert. Offiziell lag es daran, dass zu wenig Leute zur Wahl gegangen sind. Sind die Berliner demokratiefaul?
In Wirklichkeit waren es nicht zu wenig Leute, sondern die Hürde war zu hoch. 25 Prozent der Wahlberechtigten hätten mit Ja stimmen müssen, am Ende waren es 24 Prozent.
Es ist kein nachträgliches Rumnörgeln, wenn jetzt die Initiatoren des Volksentscheides darauf aufmerksam machen, dass sie bei einer niedrigeren Hürde (wie etwa den 20 Prozent in Hamburg) gewonnen hätten. Natürlich war es auch vor dem Volksentscheid schon richtig, die Hürde zu senken oder abzuschaffen. Das Ergebnis zeigt jedoch noch einmal die Relevanz und Dringlichkeit.
Bei Wahlen gilt die Null-Prozent-Hürde
Vielleicht lohnt sich ein Blick auf die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vor zwei Jahren: Die Wahlbeteiligung lag damals bei 60 Prozent, für eine Mehrheit reichten also 30 Prozent! Dort geht es um alle möglichen politischen Themen. Es ist klar, dass sich dafür weit mehr Menschen mobilisieren lassen als für ein Einzelthema wie die Stromversorgung.
Aus dieser Sicht müsste die Hürde für Einzelfragen niedriger liegen als für allgemeine Wahlen. Im Moment ist es genau anders herum: Ein Parlament ist immer demokratisch legitimiert – es gilt die Null-Prozent-Hürde. Brauchen wir die auch für Volksentscheide?
Bitte nur eine Hürde
Natürlich kann nicht über jede Idee irgendeiner Berliner Bürgerin abgestimmt werden. Deswegen musste der Berliner Energietisch für den Volksentscheid auch erst mindestens 173.000 Unterschriften sammeln. Wenn damit jedoch klar ist, dass es um ein gesamtgesellschaftlich relevantes Thema geht, dann sollte bei der Abstimmung doch die einfache Mehrheit reichen. Selbst wenn die Beteiligung dann nur gering ist: Jeder hatte die Möglichkeit, seine Stimme abzugeben. Wer nicht will, der hat schon.
Die einfache Mehrheit ist auch ökonomisch geboten, denn jede Wahl kostet Geld und die Kosten werden in die Höhe getrieben durch die zwei unterschiedlichen Hürden: einerseits für die Abstimmung an sich und andererseits für den Erfolg des Volksentscheids. Wenn nämlich die erste Hürde genommen wurde und abgestimmt wird, hinterher jedoch die Entscheidung ungültig ist, weil sich angeblich nicht genügend Menschen für das Thema interessieren, dann hätte man besser die Hürde für die Zulassung des Volksentscheides höher ansetzen können, also vorher mehr Unterschriften verlangen sollen.
Taktische Spielchen
Wenn es nur noch für die Veranstaltung eines Volksentscheids eine Hürde gibt, fallen auch einige taktische Spielchen weg. So hätte in Berlin der rot-schwarze Senat die Abstimmung auf den Tag der Bundestagswahl legen und Geld sparen können, er hat es aber absichtlich nicht getan, um die Wahlbeteiligung beim Volksentscheid zu drücken – wie sich gezeigt hat: erfolgreich.
Auch ist die Zahl der Nein-Stimmen wenig aussagekräftig. Von Anfang an war absehbar, dass die Gegner der Initiative keine Mehrheit bekommen würden. Sie konnten am Sonntag also bequem zu Hause bleiben und darauf hoffen, dass der Volksentscheid an der 25-Prozent-Hürde scheitert. Eine Nein-Stimme hatte bloß symbolischen Charakter. Wenn künftig die einfache Mehrheit entscheiden dürfte, würde sich das ändern – zumindest bei Abstimmungen, die ein knappes Ergebnis erwarten lassen.
Die Zukunft: "Wahl-Geld"
Droht mit der Aufhebung der 25-Prozent-Hürde eine Flut an Volksentscheiden? Muss an jedem Wochenende die ganze Stadt in die Wahllokale rennen, weil eine kleine Minderheit einen verrückten Vorschlag durchsetzen will? Vielleicht sollte man sich auch mal fragen, ob es wirklich falsch ist, wenn besonders Interessierte bei ihren Themen ein größeres Stimmgewicht haben als andere.
Die Anwohner von potentiellen Atommüll-Lagern beispielsweise kennen sich viel besser über mögliche Risiken aus als nahezu alle anderen Bürger dieses Landes. Für sie spielen diese Sicherheitsthemen auch eine weitaus größere Rolle als im Durchschnitt der Bevölkerung. Was wäre falsch daran, wenn die Anwohner bei diesen Fragen ein stärkeres Stimmgewicht bekämen und dafür bei anderen Themen, die ihnen nicht so wichtig sind, weniger entscheiden dürfen?
Wenn 49 Prozent aller Bürger unbedingt alle Atomkraftwerke abschalten wollen und 51 Prozent ist es mehr oder weniger egal, sie tendieren aber zum Weiterbetrieb: Ist es dann demokratisch, die Reaktoren am Netz zu lassen? Vorstellbar wäre auch so etwas wie „Wahl-Geld“. Man hätte beispielsweise 100 Stimmen, die man auf fünf verschiedene Fragen beliebig aufteilen kann. Manche geben bei jeder Frage 20 Stimmen ab, andere konzentrieren ihr gesamtes „Wahl-Geld“ auf eine einzige Frage.
Vielleicht ist die Losung „one man, one vote“ doch noch nicht der Höhepunkt der Demokratie.
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