Die Mär vom Wettbewerbsnachteil

Energiewende Die Industrierabatte beim Ökostrom sollen Arbeitsplätze sichern. In Wirklichkeit betreibt die Regierung so aggressive Standortpolitik auf Kosten der Bürger und der Umwelt
Ausgabe 14/2014

Ein Gepenst geht um im Wirtschaftsministerium. Das Gespenst der De-Industrialisierung. SPD-Minister Sigmar Gabriel sagte kürzlich dem Spiegel, er müsse „verhindern, dass wegen der hohen Strompreise die Industrie in Scharen aus Deutschland abwandert“. Die Gefahr der De-Industrialisierung sei „keine plumpe Propaganda der Wirtschaft, sondern bittere Realität“.

Die großen Worte richten sich an einen großen Gegner. Die EU-Kommission kämpft seit Jahren gegen die Industrieprivilegien bei der deutschen Ökostromförderung, an denen die Bundesregierung so vehement festhält. Jetzt muss schnell ein Kompromiss gefunden werden, wenn das Bundeskabinett in dieser Woche den Entwurf des Erneuerbare-Energien-Gesetzes beschließen will. Am Montag erklärte Gabriel, dass 500 Firmen ihre Privilegien verlieren sollen – das heißt aber auch: Mehr als 1.500 Unternehmen werden sie behalten.

Hier zeigt sich idealtypisch die Haltung der schwarz-roten Bundesregierung zur Energiewende: Die Konzerne sollen profitieren – auf Kosten der Bürger und der Umwelt.

Keine belastbaren Zahlen

Angeblich geht es um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der großen Stromverbraucher aus dem produzierenden Gewerbe, insbesondere aus der Chemie-, Metall- und Papierindustrie. Angeblich sind Arbeitsplätze gefährdet, wenn die Konzerne genauso viel für die Ökostrom-Umlage zahlen müssten wie kleinere Firmen und Privathaushalte. Nur: Belastbare Zahlen, die das belegen würden, kann die Bundesregierung nicht vorlegen, wie sie auf eine Anfrage des grünen Bundestagsabgeordneten Oliver Krischer einräumt.

Trotzdem zahlt die Industrie im Extremfall nur ein Prozent der normalen Umlage. Im Gegenzug blechen die anderen in diesem Jahr 5,1 Milliarden Euro zusätzlich. Den durchschnittlichen Drei-Personen-Haushalt kostet das fast 50 Euro.

Die Behörden prüfen gar nicht, ob ein begünstigtes Unternehmen überhaupt im internationalen Wettbewerb steht. Das zuständige Bundesamt entscheidet nach nur drei Kriterien, wer in den Genuss der Industrierabatte kommt: Im Jahr muss eine Gigawattstunde Strom oder mehr verbraucht werden, das entspricht rund 300 Haushalten; die Elektrizitätskosten machen mindestens 14 Prozent der Bruttowertschöpfung aus; und besonders große Unternehmen brauchen ein zertifiziertes Energiemanagementsystem, mit dem Strom gespart werden soll.

Nicht nur der Strom zählt

Das Problem: Es gibt laut Wirtschaftsministerium keine einfache Definition, anhand derer man entscheiden könnte, ob eine Firma im internationalen Wettbewerb steht. Das Gesetz gehe daher davon aus, „dass Unternehmen aus dem verarbeitenden Gewerbe und dem Bergbau grundsätzlich im Wettbewerb stehen, da sie handelbare Waren produzieren“.

Der internationale Wettbewerb lässt sich zum Beispiel nicht daran erkennen, wie hoch der Umsatz im Ausland ist. Schließlich können die Firmen auch auf dem deutschen Absatzmarkt ausländische Konkurrenz bekommen, die gar keine Ökostrom-Umlage zahlen muss.

Trotzdem darf man bezweifeln, ob die Ausnahmen nötig sind, um eine De-Industrialisierung Deutschlands zu verhindern. Zum Beispiel profitiert von den Rabatten auch der Bergbau – obwohl sich der Standort wohl kaum verlagern lässt, wenn die zu fördernden Ressourcen am selben Ort bleiben.

Internationale Konzerne entscheiden auch nicht nur nach dem günstigsten Strom. Wichtig sind auch ausgebildetes Fachpersonal, die Verkehrsinfrastruktur oder regionale Absatzmärkte. Und natürlich Steuern, Abgaben und die Kosten für Arbeitskräfte. Nimmt man alles zusammen, ist Deutschland offenbar sehr konkurrenzfähig. Anders lassen sich die Exportüberschüsse nicht erklären, die Jahr für Jahr vermeldet werden.

Es wäre auch kein Drama, wenn einige Firmen wegen der Ökostrom-Umlage abwandern. In anderen Ländern entstünden dann Arbeitsplätze, eventuell sogar mit höheren Sozialstandards. Nur gäbe es dann in Deutschland weniger Firmen, die sich an der Ökostromförderung beteiligen; und wenn in anderen Ländern der Strom billiger ist, dann wird auch insgesamt mehr verbraucht und die Kohlendioxid-Emissionen steigen. Allerdings ist fraglich, ob es für das Klima unter dem Strich besser ist, den Strom von vornherein für Großkonzerne billiger zu machen.

Beim Mindestlohn käme auch niemand auf die Idee, dass sich große Firmen im internationalen Wettbewerb nicht daran zu halten brauchen. Wer Sozial- und Umweltstandards weltweit durchsetzen will, darf kein Dumping betreiben. Die Industrierabatte Deutschlands setzen auch andere Länder unter Druck, die Standards runterzusetzen, um konkurrenzfähig zu bleiben.

Die Zahl der Begünstigungen explodiert

Dabei sind die deutschen Börsenstrompreise in den vergangenen Jahren sogar deutlich gefallen, das zeigt der Preisindex des Verbands VIK, der die industriellen Großkunden vertritt. Gleichzeitig hat die Politik den Kreis der privilegierten Firmen deutlich ausgeweitet. Schwarz-Gelb hat die Mindestverbrauch-Schwelle von zehn auf eine Gigawattstunde gesenkt. Seitdem ist die Zahl der begünstigten Unternehmen und Unternehmensteile explodiert. Rund 750 profitierten vor zwei Jahren, heute sind es mehr als 2.000 – von der Weberei über das Sägewerk bis zum Schlachthof.

Die neu hinzugekommen Firmen haben bislang auch ohne die Privilegien überlebt. Warum sollte es jetzt anders sein? Es geht der Politik nicht darum, Abwanderung zu verhindern, sondern die Firmen nach Deutschland zu locken. Wenn die schwarz-rote Bundesregierung bei der aktuellen Regelung bleibt, betreibt sie also aggressive Standortpolitik auf Kosten der Umwelt. Mit einigen negativen Nebeneffekten.

Anreiz zur Stromverschwendung

Die Rabatte belohnen Vielverbraucher und geben ihnen Anreize, Strom zu verschwenden. Zudem verschaffen sie den großen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den kleineren Firmen. Konzerne, die eigentlich gar nicht so viel Energie benötigen, können sogar ihre Struktur so anpassen, dass zumindest einzelne Unternehmensteile die 14 Prozent Stromkosten erreichen und dann begünstigt werden. Andere Firmen verbrauchen vielleicht absichtlich etwas mehr Strom, damit sie über die Schwelle kommen und dann insgesamt weniger zahlen.

Die Gewerkschaften weisen auf ein weiteres Problem hin: Die Rabatt-Regel belohnt Unternehmen, die ihre Stammbelegschaft entlassen und stattdessen auf Werkverträge und Leiharbeit setzen. Das liegt an der merkwürdigen Berechnung der 14-Prozent-Marke bei den Stromkosten, die erreicht werden muss, um die Privilegien zu erhalten.

Gleichzeitig sind die Gewerkschaften aber auch große Verfechter der Privilegien. Die Chemie- und Bergbau-Gewerkschaft IG BCE hält die Rabatte etwa für „absolut notwendig“. Auch die Linken und Grünen im Bundestag wollen die Privilegien nicht abschaffen, jedoch stark einschränken.

Die Linksfraktion schlägt beispielsweise drei Kriterien vor: Eine Firma muss erstens überdurchschnittlich energieintensiv sein. Zweitens muss sie im außereuropäischen Wettbewerb stehen. Nur bestimmte Branchen hätten Anspruch auf die Rabatte. Dabei solle sich die Politik an einer EU-Liste aus 15 Branchen orientieren, die bereits im Zusammenhang mit dem europäischen Emissionshandel erarbeitet wurde. Drittens will die Linksfraktion den Unternehmen vorschreiben, ihre Energieeffizienz jedes Jahr um zwei Prozent zu verbessern.

Andere Bedingungen für die Privilegien sind ebenfalls vorstellbar: So könnte der Rabatt nur gewährt werden, wenn das Unternehmen nicht gleichzeitig einen Gewinn einfährt. Allerdings werden die Gewinne dann in andere Länder verschoben oder auf wenige Geschäftsjahre konzentriert, um in den anderen Jahren Verluste zu schreiben. Diese Tricksereien gibt es jedoch bei allen Steuern und Abgaben. Trotzdem hätte die Regel einen Nachteil: Es gingen zwar keine Firmen wegen der Ökostrom-Umlage pleite, trotzdem sind die Gewinnaussichten dadurch in Deutschland womöglich niedriger als woanders. Ähnlich ist es, wenn die Rabatte an hohe Börsenstrompreise gekoppelt werden, wie es der Ökostromanbieter Lichtblick vorschlägt.

Die ökologische Wahrheit

Vielleicht muss auf die alte Ordnungspolitik zurückgegriffen werden: Zölle für energieintensive Produkte aus dem Ausland schützen die heimische Industrie und damit die Beteiligung möglichst vieler Unternehmen an der Ökostrom-Umlage. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass die Energiekosten die ökologische Wahrheit sprechen. Nur mit den internationalen Freihandelsabkommen verträgt sich diese Lösung nicht so gut – und mit dem europäischen Binnenmarkt schon gar nicht.

Die EU-Kommission hat inzwischen einen Vorschlag vorgelegt, der in eine andere Richtung geht: Die Privilegien sollen auf 65 Branchen beschränkt werden, hinzu kommen jedoch noch Unternehmen, bei denen die Stromkosten mindestens 25 Prozent ausmachen und die mindestens vier Prozent ihres Handels außerhalb der EU betreiben. Sie alle sollen nicht bloß rund ein Prozent der Umlage zahlen wie heute, sondern 20 Prozent. Allerdings kann der Satz in Ausnahmefällen auf bis zu 2,5 Prozent der Bruttowertschöpfung gesenkt werden. Das Öko-Institut hat ausgerechnet, dass die Industrierabatte dadurch nochmal um zwei Milliarden Euro größer werden könnten, weil die Zahl der Firmen steigen könne.

Gabriel kämpft weiter für großzügiger Rabatte, um „massive Wettbewerbsprobleme“ zu verhindern, wie er in der vergangenen Woche nach einem Treffen mit Vertretern der Bundesländer noch einmal betonte. Das Volumen der Rabatte will er zwar senken, allerdings nur um eine Milliarde Euro – womit lediglich der Stand des Vorjahres erreicht wäre. Eine echte Reform sieht anders aus.

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