Erst ist die Fünf-Prozent-Hürde gefallen, dann die Drei-Prozent-Hürde. Jetzt braucht eine Partei ungefähr 0,6 Prozent, um einen Sitz im Europäischen Parlament zu ergattern. Das lässt viele strategische Wähler ratlos. Früher hatten sie noch Anhaltspunkte, an denen sie sich orientieren konnten: Wenn eine Partei zu klein ist: Besser nicht wählen, sie schafft es sowieso nicht. Wenn eine Partei knapp unter der Hürde ist: Besser wählen, dann kann man gleich mehreren Abgeordnete ins Parlament hieven.
Und heute? Die faktische „0,6-Prozent-Hürde“ könnte zwar theoretisch auch zu einem strategischen Wählen verleiten. Angesichts fehlender Informationen – es gibt keine Umfragen, die für die kleinen Parteien präzise Ergebnisse liefern – ist dies in der Praxis aber fast unmöglich. Das heißt allerdings nicht, dass es nun immer klug ist, die Partei zu wählen, mit der ich am meisten Gemeinsamkeiten habe. Wer strategisch wählt, muss auch berücksichtigen, wie sich die Abgeordneten im Parlament verhalten.
Ein-Thema-Parteien
Die Abschaffung der Hürde macht es möglich, dass in diesem Jahr erstmals auch kleine Parteien ihre Leute nach Brüssel schicken. Ohne die Klausel hätten es bei der Wahl 2009 immerhin sieben zusätzliche Parteien geschafft: Freie Wähler, Republikaner, Tierschutzpartei, Familien-Partei, Piraten, Rentner-Partei und die Ökologisch-Demokratische Partei.
Ist es aber taktisch klug, eine kleine Partei zu wählen? Ihr Vorteil besteht darin, dass sie die Interessen und Überzeugungen einer ganz bestimmten Wählerklientel bedient; und zwar besser als die großen Parteien, die sich an eine größere Masse richten. In der Regel wählen also diejenigen eine kleine Partei, die dort die größte Schnittmenge an gemeinsamen Positionen sehen – und nicht diejenigen, die aus taktischen Gründen dort ihr Kreuz setzen.
Dabei ist das durchaus vorstellbar: Wenn ich beispielsweise die meisten Gemeinsamkeiten mit den Grünen habe, mir aber die Netzpolitik sehr wichtig ist und ich der Auffassung bin, dass die Piraten bei diesem Thema eine bessere Position vertreten, dann kann es klug sein, die Piraten zu wählen. Im Europaparlament werden sich die Piraten möglicherweise wieder mit den Grünen in einer Fraktion zusammentun und dann die grünen Internet-Positionen beeinflussen, während sie bei den anderen Themen (bei denen ich den Grünen näher stehe) vermutlich nicht allzu viel an den Positionen der Grünen ändern werden, weil diese Themen den Piraten weniger wichtig sind.
Häufig haben die kleinen Parteien ihr Spezialgebiet: Tierschutz, Familie oder Rente. Mit ihrem Kernthema setzen sie die größeren Parteien unter Druck, die anderen Positionen sind Verhandlungsmasse.
Weniger Macht
Die Stimme für eine kleine Partei hat jedoch auch einige Nachteile: Diese Partei wird nie so eine Macht haben wie eine Partei, die alleine eine Fraktion im Europaparlament stellen kann. Sie muss sich in Brüssel einer anderen, größeren Partei anschließen und wird dann in der Öffentlichkeit nur schwer als eigenständige Partei wahrgenommen. Oder die Abgeordneten bleiben fraktionslos – wodurch sie nicht nur in ihrer parlamentarischen Tätigkeit eingeschränkt sind, sondern auch die Aufmerksamkeit der Medien verlieren.
Wenn ich meine Stimme einer größeren Partei geben will, kommen andere strategische Erwägungen in Betracht: Wenn ich zum Beispiel eigentlich für die SPD bin, mich aber zum linken Flügel zähle, kann es klug sein, die Grünen zu wählen, um zu verhindern, dass die SPD zusammen mit der CDU abstimmt. Wenn sich jedoch abzeichnet, dass es für Rot-Grün ohnehin nicht reicht, würde ich dadurch die SPD in den Verhandlungen mit der CDU schwächen.
Wechselnde Mehrheiten
Im Europaparlament gibt es keine Koalition, die eine Regierung trägt und keine feste Opposition. Stattdessen gibt es wechselnde Mehrheiten. Daher ist hier zu fragen: Wie oft tragen die Grünen den Beschluss mit, der letztlich gefasst wird? Wie oft haben sie also vorher Einfluss genommen? Und wie oft nicht? Je öfter sie dabei sind, desto eher lohnt es sich für einen linken SPD-Sympathisanten, die Grünen zu wählen.
Die Tatsache, dass die SPD öfter an den Entscheidungen beteiligt ist als die Grünen, taugt allein nicht als Argument für die Wahl der Sozialdemokraten. Schließlich kann ein linker SPD-Sympathisant davon ausgehen, dass die Entscheidungen von Rot-Grün oder Schwarz-Rot-Grün (in Brüssel durchaus möglich) eher in seinem Interesse sind als die Beschlüsse von Schwarz-Rot.
Es ist sogar vorstellbar, dass sich ein linker SPD-Sympathisant dazu entschließt, die Linkspartei zu wählen, selbst wenn diese immer in der Opposition ist. Schließlich bleibt so der Druck von links auf die SPD erhalten. Auch das kann eine strategische Überlegung sein.
Wer seine Stimme am Wochenende klug einsetzen möchte, muss sich also mehr Gedanken machen als nur über die abgeschaffte Drei-Prozent-Hürde. Aber das Nachdenken lohnt sich: Am Ende kann ich mit der Stimme mehr erreichen als diejenigen, die ihr Kreuz bei der erstbesten Partei setzen.
Lesen Sie in Ergänzung zu diesem Text auch „Strategisches Wählen 2.0“
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