der Freitag: Herr Raabe, Sie waren acht Jahre lang entwicklungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Nun haben Sie den Job hingeschmissen. Warum?
Sascha Raabe: Ich kann das Verhalten der Parteiführung in den Koalitionsverhandlungen nicht nach außen vertreten. Wir haben im Wahlprogramm versprochen, dass die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit um jährlich eine Milliarde Euro erhöht werden sollen. Nun ist eine deutliche Aufstockung gescheitert – aber nicht an der Union, sondern an der SPD-Spitze.
Wie ist das abgelaufen?
In der Verhandlungsgruppe Außen, Verteidigung und Entwicklung konnte ich unsere Forderung durchsetzen. Es war jedoch klar, dass am Ende die kleine Runde aus wenigen hochrangigen Politikern entscheiden muss, wie das zur Verfügung stehende Geld auf die verschiedenen Bereiche aufgeteilt wird. Wegen der begrenzten Mittel wäre ich auch mit einem Kompromiss zufrieden gewesen, bei dem nur die Hälfte davon rausgekommen wäre, was wir gefordert hatten. Es wurde aber nur ein Fünftel.
Politik besteht doch aus Kompromissen, oder?
Als Sprecher der SPD-Fraktion müsste ich der Öffentlichkeit vorgaukeln: Wir hätten die Gelder gerne noch stärker erhöht, aber die böse CDU wollte das nicht. Aus Gesprächen weiß ich jedoch, dass diese Darstellung falsch ist. Wenn ich nun einen solchen Eindruck erwecken soll, kann ich das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.
Die SPD-Führung war gegen mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit?
Für die Sozialdemokraten in der Runde waren mehrheitlich andere Themen wie Bildung oder Verkehr wichtiger. Ich frage mich: Warum soll Entwicklungspolitik für die SPD weniger wichtig als diese Themen sein? Für mich gibt es kein dringenderes politisches Anliegen, solange täglich mehr als 20.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut sterben. Zudem hat sich Deutschland verpflichtet, bis zum Jahr 2015 die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Derzeit liegen wir nur etwa bei der Hälfte. Mit dem Kompromiss im Koalitionsvertrag werden wir auch auf diesem Niveau bleiben, denn die zusätzlichen Mittel entsprechen lediglich dem Wirtschaftswachstum.
Sie haben dann aufgegeben?
Nein, in der Sitzungswoche vor den Winterferien habe ich nochmal mit führenden Personen aus meiner Partei gesprochen. Da habe ich angekündigt, dass ich wahrscheinlich nicht mehr als Sprecher weitermache – es sei denn, ich bekäme ein deutliches Signal, dass in den kommenden vier Jahren mögliche unerwartete Steuermehreinnahmen prioritär in die Entwicklungszusammenarbeit fließen. Ein hochrangiges SPD-Mitglied hat mir gesagt: „Dein Thema interessiert nur eine kleine Minderheit in Deutschland.“ Ich könne zwar für mehr Entwicklungsgelder kämpfen, müsse dann aber erklären, dass bei den Kitas gekürzt werde.
Das hat Sie empört.
Mir wurde klar, dass es so nicht weitergeht. Zum einen ist es falsch, dass sich die Bevölkerung nicht für Entwicklungspolitik interessieren würde, das belegen zahlreiche Umfragen. Zum anderen darf man Bildung in Deutschland nicht gegen den Hunger in der Welt ausspielen. Wenn Mitglieder in der Partei- und Fraktionsführung so denken, dann sollte das auch die Öffentlichkeit erfahren.
Sie wollten die SPD wachrütteln. Hat das geklappt?
Die Reaktionen auf meine Erklärung zum Rücktritt waren überwältigend und durchweg positiv. Ich habe auch mit einigen Leuten aus der Partei- und Fraktionsführung gesprochen und hatte das Gefühl: Die Botschaft ist angekommen. Jetzt bin ich vorsichtig optimistisch, dass sie sich anders verhalten werden, wenn es in Zukunft eine ähnliche Situation gibt.
Sie nennen keine Namen. Warum?
Ich schätze diese Personen und möchte nicht, dass sie persönlich öffentlich angeprangert werden, sondern dass sie ihre Einstellung ändern. Denn in diesem konkreten Punkt sind sie eben ganz weit weg von der Mehrheitsmeinung meiner Partei. Die Entwicklungszusammenarbeit ist ein sozialdemokratisches Kernanliegen, internationale Solidarität war schon immer identitätsstiftend für die SPD.
Jetzt haben Sie ihre Position als Sprecher aufgegeben. Das hört sich erstmal toll an: Da klebt ein Politiker nicht an seinen Posten. Sie verlieren damit aber auch an Einfluss, vielleicht gibt es bei der nächsten Verhandlung niemanden mehr, der sich so stark für mehr Entwicklungsgelder einsetzt. Zugespitzt formuliert: Müssen Kinder sterben, bloß weil Sie ein reines Gewissen haben wollen?
Nein, im Gegenteil, denn die Mittel für die kommenden vier Jahre sind jetzt erstmal festgelegt und ohne meinen wachrüttelnden Schritt hätte sich auch in Zukunft nichts zum Positiven verändert. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es früher zusätzliches Geld durch höhere Steuereinnahmen als erwartet gibt, werde ich natürlich weiterhin dafür kämpfen, dass wir die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit erhöhen. Ich glaube, mein ungewöhnlicher Schritt der Abgabe des Sprecherpostens hat die Fraktion für das Thema sensibilisiert und meinem Ansehen und Einfluss nicht geschadet. Zudem wird sich meine Nachfolgerin Bärbel Kofler ebenfalls für die Erhöhung der Entwicklungsgelder einsetzen. Sie war acht Jahre lang meine Stellvertreterin und ich habe immer gut mit ihr zusammengearbeitet.
Frau Kofler hat in ihrer ersten Pressemitteilung als entwicklungspolitische Sprecherin erklärt: „Leider wird es aufgrund der Versäumnisse vor allem der vergangenen vier Jahre nicht gelingen, die internationale Finanzierungszusage Deutschlands fristgerecht zu erfüllen“. Ist das nicht das Gegenteil von dem, was Sie sagen?
Nein, sie hat hundertprozentig recht. Ich habe auch immer betont, dass wir aufgrund der Kürzungen unter der schwarz-gelben Vorgängerregierung unmöglich innerhalb von zwei Jahren auf 0,7 Prozent kommen können, da müssten wir die Gelder nämlich verdoppeln.
Trotzdem hört sich das Statement so an, als wolle sie alleine Schwarz-Gelb die Schuld in die Schuhe schieben.
Es gibt in dem Punkt keine Meinungsunterschiede zwischen ihr und mir: Wir wollen beide, dass die Entwicklungsgelder jetzt noch weiter aufgestockt werden. Aber aus ihrer Sicht gibt es keinen Grund, nochmal darauf rumzureiten, wie es in den Koalitionsverhandlungen gelaufen ist. Zumal sie bei den Gesprächen selbst in der Arbeitsgruppe Umwelt war.
Bei der Diskussion wird oft so getan, als ginge es nur um die Höhe der Gelder. Dabei versandet auch einiges in den Verwaltungsapparaten.
Natürlich taugt das Geld nur, wenn es auch vernünftig eingesetzt wird. Das gilt jedoch für alle Politikbereiche. Es gibt Stuttgart 21 und den Hauptstadtflughafen in Berlin. Da werden Millionen Euro verschwendet und trotzdem kommt niemand auf den Gedanken, deswegen sollten im Haushalt keine Mittel für die Verkehrspolitik bereitgestellt werden. Übrigens: Die Idee, jedes Jahr eine Milliarde Euro mehr für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben bis das 0,7-Prozent-Ziel erreicht wird, ist auch deshalb charmant, weil dann langfristig geplant und das Geld effizient eingesetzt werden kann.
Abgesehen von den Finanzen: Was macht die große Koalition in der Entwicklungspolitik?
Unter dem FDP-Minister Dirk Niebel wurde die Entwicklungspolitik als reine Außenwirtschaftsförderung verstanden. Wir wollen die Politik wieder an den ärmsten Menschen ausrichten und an dem Prinzip der Nachhaltigkeit.
Dirk Niebel hat viele FDP-Mitglieder als Mitarbeiter in sein Ministerium geholt. Muss der neue CSU-Minister Gerd Müller die nun rausschmeißen, wenn er den neoliberalen Kurs aufgeben will?
Er sollte kritisch schauen, ob die in den letzten Jahren neu eingestellten Mitarbeiter alle bleiben können. Ich glaube nicht. Jedes Ministerium braucht die fachlich besten Leute und nicht diejenigen, die wegen ihres Parteibuchs eingestellt wurden. Eine generelle Überprüfung wäre daher sicherlich gut. Sollte sich herausstellen, dass in der Vergangenheit nicht nach Leistung und Eignung entschieden wurde, wie es im Grundgesetz vorgeschrieben ist, dann sollte man denjenigen eine Chance geben, die damals zu Unrecht den Kürzeren gezogen haben.
Die Stelle des Ministers wird auch nicht nach Kompetenz besetzt, sondern nach Parteienproporz. Zeigt sich darin der geringe Stellenwert der Entwicklungspolitik?
Ich finde, die Entwicklungspolitik wird von den Medien zu Unrecht so schlecht behandelt. Als bekannt wurde, dass die CSU das Ministerium bekommt, wurde dies von den führenden Zeitungen als Verliererministerium dargestellt. Das hat mich sehr geärgert, weil das auch in der Bevölkerung ganz anders gesehen wird. Bei einer Umfrage vom Dezember haben 87 Prozent der Deutschen angegeben, dass sie Entwicklungspolitik wichtig oder sehr wichtig finden. Zudem haben wir hier das höchste Spendenaufkommen pro Kopf.
Im Koalitionsvertrag ist die Entwicklungspolitik natürlich nicht bis ins Detail geregelt. Wo werden sich SPD und Union zoffen?
Streit wird es sicherlich geben bei den Freihandelsabkommen der EU mit Entwicklungs- und Schwellenländern. Im Koalitionsvertrag steht drin, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzen wird, dass in diesen Verträgen auch Umwelt- und Sozialstandards verbindlich festgeschrieben werden, ich betone: verbindlich. Das hat die Union nicht gerne und da müssen wir bei jedem einzelnen Abkommen auf die Durchsetzung des Koalitionsvertrags pochen.
Das Gespräch führte Felix Werdermann
Sascha Raabe, 45, sitzt seit dem Jahr 2002 für die SPD im Bundestag. Er war acht Jahre lang der Sprecher der Arbeitsgruppe „Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“; jetzt hat seine bisherige Stellvertreterin, Bärbel Kofler, dieses Amt übernommen. Raabe hat Politikwissenschaft und Jura studiert
Zu seinem Rücktritt hat er im Internet eine ausführliche Stellungnahme verfasst.
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