Lieber aktiv als radioaktiv

Porträt Hubert Lutz hat schon vor 40 Jahren gegen den Reaktor in Grafenrheinfeld protestiert. Jetzt wird das AKW endlich abgeschaltet, doch bis zur grünen Wiese dauert es noch
Ausgabe 26/2015

Er war gerade 15 Jahre alt, da interessierte er sich bereits für das Atomkraftwerk, das damals noch nicht einmal genehmigt war. Hubert Lutz ging zu Veranstaltungen, zu Protestaktionen, zu Demonstrationen. „Mein Vater wollte es mir verbieten. Das hat aber nicht funktioniert.“ Seitdem hat ihn der Reaktor in Grafenrheinfeld nicht mehr losgelassen. Heute ist Lutz 58 Jahre alt, fast sein ganzes Leben lang hat er gegen das AKW gekämpft. Am Samstag wird der Reaktor nach mehr als 33 Betriebsjahren abgeschaltet. Als erster der neun deutschen Atomreaktoren, die nach der Katastrophe von Fukushima weiterlaufen durften – und als vermutlich einziger, der in dieser Legislaturperiode vom Netz geht.

Grafenrheinfeld liegt direkt neben Schweinfurt, im Nordwesten Bayerns. Seit Jahrzehnten kämpfen Bürger gegen das Atomkraftwerk. Während Aktivisten aus den Großstädten gelegentlich zu einer Demo vorbeikommen, ist der Widerstand für die Menschen vor Ort zur Lebensaufgabe geworden. Was passiert, wenn das Hassobjekt auf einmal verschwindet?

Hubert Lutz wächst in einem Nachbarort auf und engagiert sich in der Katholischen jungen Gemeinde. Als 1974 mit dem Bau des Atomkraftwerks begonnen wird, hat er sich seine Meinung schon gebildet. „Ich wusste, dass ich das hier nicht haben will.“ Lutz interessiert sich schon immer für Physik, macht nach seinem Hauptschulabschluss eine Ausbildung zum Elektriker. Doch die Arbeit ist ihm zu eintönig, außerdem stört ihn der Schichtbetrieb. Also holt er das Abitur nach und zieht ins nahe Würzburg, um dort Psychologie zu studieren. Dort beteiligt er sich am Widerstand gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf – die Proteste sind erfolgreich. Nach dem Studium zieht er wieder in die Nähe von Grafenrheinfeld, trotz des Reaktors. „Das ist meine Heimat, ich wollte mich nicht vertreiben lassen“, sagt er. In einer Partei wird er nie aktiv, aber in der örtlichen Bürgerinitiative. Mittlerweile ist er seit 20 Jahren deren Vorsitzender.

Der Reaktor liegt nur vier Kilometer von seinem Haus entfernt, wo er mit seiner Frau und seinen Töchtern wohnt. „Mir ist immer mulmig“, sagt er. Vom Garten ist das Kraftwerk nicht zu sehen, aber wenn er Feuerwehrsirenen hört, steigt er schon mal auf den Dachboden. „Es gab ein paar Schnellabschaltungen“, berichtet er. „Wir haben gewusst, was wir tun würden, wenn es einen Unfall gibt.“ An den offiziellen Katastrophenschutzplan hätte er sich nicht gehalten. „Mit meiner Frau habe ich abgesprochen, wer welches Kind bei welcher Schule abholt und bei welchen Freunden wir uns treffen.“ Auch für die heilpädagogische Tagesstätte, die er leitet, hat er einen eigenen Plan entwickelt. In den letzten Tagen vor der Abschaltung ist er etwas beunruhigt. „Noch nie war so wenig spaltbares Material im Reaktor, das ist eine Sondersituation.“

Lange hat er auf diesen Zeitpunkt gewartet. Als Rot-Grün nach dem Regierungswechsel 1998 den Ausstieg beschlossen hat, waren viele Atomkraftgegner unzufrieden, auch Hubert Lutz. „Die haben uns das Zwischenlager gebracht“, schimpft er auf die Politiker von SPD und Grünen. „Außerdem wäre der Ausstieg viel schneller gegangen. Das hat man nach Fukushima gesehen, da wurden erstmal alle Reaktoren abgeschaltet und da hat auch kein Licht geflackert.“ Zwischendurch hat eine schwarz-gelbe Bundesregierung jedoch zunächst den rot-grünen Ausstieg rückgängig gemacht und längere Laufzeiten beschlossen. Erst nach Fukushima wurde das zurückgenommen und für jedes AKW ein fester Abschalttermin festgelegt. Grafenrheinfeld dürfte noch bis Ende des Jahres Strom produzieren. Doch Eon hat sich als Betreiber für ein früheres Abschalten entschieden – weil nun die Brennelemente ausgetauscht werden müssten und dann die Kernbrennstoffsteuer angefallen wäre, was sich bei einem Weiterbetrieb bis Jahresende nicht rentiert hätte.

Tausende Atomkraftgegner haben schon Ende Mai ein großes Abschaltfest gefeiert, unter der Schirmherrschaft der Kinderbuchautorin Gudrun Pausewang. Sie hat das Atomkraftwerk mit ihrem Roman Die Wolke bekannt gemacht. Er handelt von einem Unfall in Grafenrheinfeld und wurde mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft. Im Jahr 2006 wurde das Buch verfilmt, dort trägt das Kraftwerk bloß den fiktiven Namen AKW Markt Ebersberg.

So bleibt der Film immerhin noch aktuell, wenn in Grafenrheinfeld bald keine Atomkerne mehr gespalten werden. Das Risiko wird aber nicht von einen auf den anderen Tag komplett verschwinden. Die Brennstäbe müssen noch weiter gekühlt werden, damit es keine Kernschmelze gibt. Der Betreiber Eon will im Jahr 2027 mit dem Rückbau des Kraftwerks fertig sein, anschließend können die Gebäude ganz normal abgerissen werden, das dauere noch einmal zwei bis drei Jahre. Allerdings wird sich das Zwischenlager neben dem Kraftwerk weiter füllen, es ist genehmigt bis zum Jahr 2046. Da derzeit keine andere Lagerstätte in Sicht ist, könnte es eine Verlängerung geben. Hubert Lutz ist sich jedenfalls sicher: „Ich werde die grüne Wiese nicht mehr erleben.“

Die Arbeit für die Bürgerinitiative ist mit dem Abschalten des Reaktors nicht beendet. Lutz will darauf achten, „dass möglichst hohe Sicherheitsstandards beim Rückbau eingehalten werden“. Schwach radioaktives Material dürfe etwa nicht mit anderem Abfall vermischt werden, damit hinterher der gesetzliche Grenzwert unterschritten wird und der gesamte Müll als unverstrahlt gilt. Nach Angaben der Initiative „Ausgestrahlt“ gibt es dann keine Kontrolle mehr, was mit dem Material aus Grafenrheinfeld passiert. „Radioaktiver Schutt kann so auch als Unterbau auf Kinderspielplätzen, strahlende Rohre auch als Kochtopf enden.“ Für Hubert Lutz ist also auch in den kommenden Jahren noch viel zu tun.

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