Erschüttert schaute die Welt auf die Katastrophe von Fukushima. Wie sicher sind unsere Atomkraftwerke wirklich? In Deutschland wurde ein neuer Ausstieg beschlossen. Andere Länder, etwa Japan, glauben an die Zukunft der Atomkraft. Sie haben wenig Interesse an Zahlen zu den Gesundheitsschäden durch die Reaktorkatastrophe – und sie setzen internationale Organisationen unter Druck.
der Freitag: Herr Rosen, Sie arbeiten für die atomkraftkritische Ärzteorganisation IPPNW und befassen sich mit den Folgen von Fukushima. Der Unfall ist nun genau fünf Jahre her. Aber wer wissen will, wie viele Menschen an der Strahlung erkrankt sind oder noch erkranken werden, findet keine offiziellen Zahlen. Warum?
Alex Rosen: Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Kollektivdosis an radioaktiver Strahlung geschätzt, der die Menschen in Japan ausgesetzt sind. Die Berechnung, was das konkret für die Gesundheit der Leute bedeutet, die überlässt sie anderen. Wir haben das mal gemacht und kommen auf 22.000 bis 66.000 zusätzliche Krebsfälle. Die WHO-Ausgangsdaten sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da wurde viel unterschätzt.
Die WHO hat doch auch die gesundheitlichen Folgen abgeschätzt.
Ja, aber die Forscher nennen da nur Prozente. Sie sagen beispielsweise: Die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle wird bei Mädchen in Fukushima um 19 bis 75 Prozent ansteigen. Wichtig sind jedoch die absoluten Zahlen.
Die könnte man doch ausrechnen, oder?
Ja, dazu müsste man wissen, wie viele Mädchen wie alt waren zu welchem Zeitpunkt. Die WHO rechnet das jedenfalls nicht aus. Weil es schlecht aussieht, wenn man absolute Zahlen präsentiert.
Weil die zu hoch sind.
Weil jede absolute Zahl zu hoch ist.
Zur Person
Alex Rosen, 36, ist Kinderarzt in Berlin und sitzt im Vorstand der atomkraftkritischen Ärzteorganisation IPPNW. Er hat zahlreiche Publikation zu Fukushima verfasst, u.a. „5 Jahre Leben mit Fukushima“
Foto: IPPNW
Die WHO versucht also, die Folgen zu vertuschen?
Sie verharmlost die Folgen. Weil sie unter enormem Druck steht, gerade auch vonseiten der japanischen Regierung. Die WHO besteht aus Mitgliedern, die gleichzeitig ihre Geldgeber sind. Die nehmen Einfluss auf die Publikationen. Die WHO kann nicht frei, neutral und unabhängig berichten.
Der Einfluss der japanischen Regierung verhindert das?
Andere Länder sind leider auch nicht besser. Nehmen Sie die USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien oder Südkorea. Das sind alles Staaten, die Atomenergie nutzen. Die wollen ihre Industrie schützen. Und wer Atomwaffen besitzt, hat auch deswegen ein Interesse, die Atomtechnik nicht in Verruf zu bringen. Diese Staaten sind sehr einflussreich.
Die WHO ist eine UN-Organisation, dort haben alle Staaten das gleiche Stimmgewicht.
Formal stimmt das. In Wirklichkeit gibt es aber Mitglieder mit mehr Macht. Das sind die Staaten, die am meisten Geld geben, die auf UN-Ebene einen höheren Einfluss haben, zum Beispiel die Vetomächte im Sicherheitsrat. Sie haben ganz andere Möglichkeiten, ihre politischen Forderungen und Vorstellungen durchzusetzen. Durch Gespräch in Hinterzimmern, durch politischen Druck, und auch durch Androhung, Finanzmittel zu streichen.
Deswegen hält sich die WHO zurück bei der Aufklärung der Fukushima-Folgen?
Es gibt noch einen anderen Grund. Die WHO hat 1959 ein Abkommen geschlossen mit der Internationalen Atomenergie-Organisation, IAEO. Das ist ein Knebelvertrag mit einer Lobbyorganisation für Atomkraft.
Wie bitte?
Ja, die IAEO finanziert sich durch ihre Mitglieder, das sind alles Atomstaaten. Und das Ziel der Organisation ist laut ihrer Satzung, weltweit die friedliche Nutzung der Atomtechnologie zu fördern. Mit dem Abkommen wird der WHO ein Maulkorb verpasst. Darin heißt es, beide Seiten „erkennen an, dass es notwendig sein kann, bestimmte Einschränkungen zur Wahrung geheimer Informationen anzuwenden“.
Sie wollen, dass der Vertrag gekündigt wird?
Er muss geändert werden. Im Prinzip ist ein Vertrag zwischen zwei UN-Organisationen ja nichts Schlimmes. Das Problem ist die Art und Weise, wie die Zusammenarbeit gelebt wird. In der Praxis ist es so, dass auf die WHO ständig Druck ausgeübt wird, bloß nichts zu veröffentlichen, was Atomkraft in Verruf bringt. Das hat man nach Tschernobyl gesehen, das sieht man nach Fukushima. Hier geht es um eine Beschneidung der Unabhängigkeit der WHO. Allerdings sehe ich den Vertrag nicht als Ursache, sondern eher als Symptom einer grundsätzlichen Schieflage.
Was müsste passieren, um die zu beseitigen?
Die WHO muss offen sagen: Wir wollen uns von der Atomlobby nicht ins Handwerk pfuschen lassen. Das wäre ein erster wichtiger Schritt. Bisher wird das Problem zwar thematisiert von den WHO-Vorsitzenden, allerdings erst, wenn sie aus dem Amt scheiden. Dann berichten sie: Das konnten wir nicht machen, weil die IAEO dagegen war. Aber während sie im Amt sind, ist das ein Tabu.
Warum kann sich die WHO nicht gegen die IAEO durchsetzen? Sie ist viel größer, hat fast drei Mal so viele Mitarbeiter.
Aber die politische Durchsetzungsmöglichkeit auf UN-Ebene ist eine andere. Indien hat auch mehr Einwohner als die USA, trotzdem haben die USA mehr Einfluss. Die IAEO ist innerhalb der UN-Familie auf einem höheren Level angesiedelt als die WHO; sie untersteht direkt dem Sicherheitsrat.
Welche Auswirkungen hat das auf die Untersuchungen der WHO zu Fukushima?
Es gab zwei wichtige Studien, zur Freisetzung der Radioaktivität und zu den gesundheitlichen Folgen. Beide wurden von fast den gleichen Leuten geschrieben, und die Mehrheit der Verfasser arbeitet für die IAEO. Oft kommen diese Forscher auch aus der Atomindustrie. Das Kapitel zu Kinderleukämie wurde beispielsweise geschrieben von Dr. Richard Wakeford. Das ist ein Mann, der jahrzehntelang als Wissenschaftler für British Nuclear Fuels gearbeitet hat. Doch in dem WHO-Bericht fehlen die Angaben zu seinen Interessenskonflikten.
An der Studie haben doch auch andere Forscher mitgearbeitet.
Ja, aber das Gremium besteht einzig und allein aus Wissenschaftlern, die der Atomindustrie unkritisch gegenüberstehen. Die herangezogenen Zahlen sind daher auch selektiv. Da wurde gesagt: Was die Bestrahlung der Arbeiter angeht, da nehmen wir die Daten von Tepco. Was die Kontamination von Nahrung angeht, da nehmen wir die IAEO-Datenbank. Und was die Freisetzung von Radioaktivität angeht, da nehmen wir die Angaben der japanischen Atomenergieagentur JAEA. In allen drei relevanten Punkten hat man sich auf die Atomindustrie und die Atomlobby berufen. Das macht den Bericht zu den gesundheitlichen Folgen wertlos.
Derzeit werden in Fukushima Kinder auf Schilddrüsenkrebs untersucht.
Das ist die Studie der Fukushima Medical University. Die läuft seit April 2011, da sollen mehr als 300.000 Kinder ihr ganzes Leben lang in regelmäßigen Abständen untersucht werden.
Die Krankheitsfälle werden dann mit Durchschnittswerten verglichen?
Das ist das Problem. Eine so groß angelegte Studie gab es weltweit noch nie. Das Einzige, womit man es vergleichen kann, ist die Neuerkrankungsrate, die in Japan vor der Atomkatastrophe herrschte. Bei 300.000 Kindern muss man von etwa einem Fall pro Jahr ausgehen. Zwei Jahre nach der Erstuntersuchung hat man allerdings schon bei 16 Kindern neu aufgetretene Fälle von Schilddrüsenkrebs gefunden. Und von einem Drittel der Kinder liegt das Ergebnis der zweiten Runde noch gar nicht vor.
Die zusätzlichen Erkrankungen liegen an der Atomkatastrophe?
Keine Krankheit trägt ein Herkunftssiegel. Aber: Wir wissen, dass enorm viel Radioaktivität freigesetzt wurde. Wir wissen, dass radioaktives Jod zu Schilddrüsenkrebs führt. Und wir haben in der Präfektur Fukushima deutlich mehr Erkrankungen, als zu erwarten waren. Das ist die Aussage. Eine Kausalität wird nicht zu beweisen sein. Wir können allerdings keinen plausiblen anderen Faktor benennen, der das erklärt.
Sind Sie froh, dass es jetzt endlich belastbare Daten zur Gesundheit in Fukushima gibt?
Ich bin kein Fan dieser Studie. Denn sie verdeckt auch viel. Etwa die Tatsache, dass außerhalb der Präfektur ebenfalls Menschen erkranken. Oder die Tatsache, dass nicht nur Schilddrüsenkrebs, sondern auch Leukämien, Brustkrebs, Darmkrebs und ganz andere Erkrankungen zu erwarten sind. Nach denen wird gar nicht gesucht. Die Studie ist auch in anderer Hinsicht angreifbar. Sie wird von der Fukushima Medical University durchgeführt, die Gelder der IAEO erhält. Das ist so, als ob Philip Morris sagen würde: Wir unterstützen die Universität dabei, die Folgen vom Rauchen zu untersuchen. Man macht den Bock zum Gärtner.
Glauben Sie, dass am Ende irgendwelche Zahlen unter den Tisch fallen?
Ich glaube zumindest, dass Druck gemacht wird, die Untersuchung auf eine bestimmte Art und Weise zu machen. Wir hören die Beschwerden der Eltern, die sagen: Die Untersuchungen dauern nur zwei bis drei Minuten. Das reicht sicherlich nicht aus, um eine Schilddrüse ordentlich zu untersuchen. Die Eltern dürfen die Daten und die Bilder nicht mit nach Hause nehmen, es wird alles geheim gehalten. Die Fukushima Medical University hat einen Brief geschrieben an alle Internisten und Kinderärzte in Fukushima, mit der Aufforderung, keine Zweituntersuchung vorzunehmen an Kindern in der Studie. Eine Zweitmeinung ist also unerwünscht.
Wie hat Fukushima die Atompolitik in Japan verändert?
Die damalige Regierung unter Naoto Kan hat nach der Katastrophe gesagt: Wir müssen ausstiegen. Jetzt ist wieder eine Pro-Atom-Regierung an der Macht, die Regierung von Shinzō Abe. Die forciert den Wiedereinstieg in die Atomenergie. Nach Fukushima waren alle 54 Reaktoren vorläufig abgeschaltet worden, jetzt sind vier wieder am Netz.
In Deutschland ist es anders gelaufen.
Als die Kernschmelze geschah, gab es hierzulande ohnehin eine Diskussion über die Atomkraft. Die schwarz-gelbe Bundesregierung wollte den gesamtgesellschaftlichen Konsens für einen Atomausstieg aufkündigen.
Wollte? Zum Zeitpunkt der Atomkatastrophe war die Laufzeitverlängerung für die Reaktoren doch schon beschlossen.
Von der Regierung, aber nicht im Bundesrat. Der Ausstieg aus dem Ausstieg war noch nicht in trockenen Tüchern. Es gab eine aufgeheizte Stimmung im Land, und mitten in dieser Zeit geschah die Katastrophe in Japan. Angela Merkel hat dann eine 180-Grad-Wende vollzogen, um weiter regieren zu können.
Ohne Fukushima wäre das wohl nicht passiert.
Doch, ich glaube schon. Es wäre nur nicht so schnell gegangen.
Aber die Massen sind erst nach der Katastrophe auf die Straße gegangen.
Auch vorher gab es große Proteste. Im Herbst hatten rund 100.000 Menschen das Regierungsviertel umzingelt. Nach Fukushima wurden es nochmal mehr. Das war einfach unvorstellbar. Am 26. März sind 250.000 Leute auf die Straße gegangen. Diesem Druck konnte die Regierung dann nichts mehr entgegensetzen und hat einen neuen Atomausstieg beschlossen.
Das Interview erscheint online in ungekürzter Fassung.
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