der Freitag: Herr Hartmann, Sie befassen sich seit Jahren mit der Frage, wie sich die Elite selbst rekrutiert. Welche Funktion hat dabei die Risikobereitschaft der Bewerber?
Michael Hartmann: Wenn Sie aus einer Arbeiterfamilie kommen, meiden Sie viele Risiken, weil Sie ins Bodenlose stürzen könnten. Diese Scheu schadet aber letztlich Ihrer Karriere.
In Ihrem letzten Buch schreiben Sie, dass in der Wirtschaftselite die Risikobereitschaft überdurchschnittlich hoch ist. Sind das alles Spekulanten?
Das hat damit nichts zu tun. In der Wirtschaft ist Risikobereitschaft einfach ein Kriterium für den Zugang zu Spitzenpositionen. Wenn Sie aufsteigen wollen, müssen Sie auffallen. Und das schaffen Sie, indem Sie riskante Projekte übernehmen. Die meisten Leute meiden diese Jobs. Wenn man die aber macht, kann man sich auszeichnen und sagen: Seht her, ich bin jemand, der auch so etwas anpackt.
Gilt das auch für den Aufstieg in anderen gesellschaftlichen Bereichen?
In der Wirtschaft ist die Risikobereitschaft als Karrierebeschleuniger besonders ausgeprägt, weil die Laufbahn dort stärker von Unwägbarkeiten geprägt ist als zum Beispiel in der Justiz oder der höheren Verwaltung. Aber im Grunde gilt dieses Prinzip überall.
Sie raten also allen Leuten, die Karriere machen wollen, möglichst viele Risiken einzugehen?
Nein, nicht möglichst viele. Natürlich können Sie an der Aufgabe auch scheitern. Daher müssen Sie kalkuliert Risiken eingehen.
Zur Person
Michael Hartmann, 63, ist emeritierter Soziologie-Professor und Deutschlands bekanntester Elitenforscher. Sein aktuelles Buch heißt Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Elite? (Campus)
Foto: Horst Galuschka/Imago
Und bestimmte Leute sind dazu einfach eher bereit als andere?
Ganz eindeutig! Ein Risiko gehen Sie viel eher ein, wenn Sie wissen, dass ein Sicherheitsnetz besteht. Mein Lieblingsbeispiel ist immer die Berufungskommission, weil ich von der Uni komme. Wenn Sie schon eine Professur haben, und Sie bewerben sich woanders, dann gehen Sie in das Vorstellungsgespräch viel entspannter, als wenn Sie seit zehn Jahren Privatdozent sind und jetzt endlich die Chance auf eine Professur haben. Es gibt dann oft auch problematische Fragen, und wer zu viel Angst hat, der eiert da rum. Das gibt Minuspunkte.
Die Risikobereitschaft hat Ihren Studien nach sehr viel mit der sozialen Herkunft zu tun.
Ja, wenn Sie aus einer wohlhabenden oder reichen Familie kommen, können Sie größere Risiken eingehen, weil sie erstens finanzielle Reserven haben und weil Sie zweitens wissen, dass solche Chancen nicht einmalig sind. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich als Arbeiterkind bis auf die zweite Führungsebene eines Unternehmens hochgearbeitet. Das ist schon ungewöhnlich und außerordentlich mühselig.
Dann geht es um die Frage: Schaffe ich es in den Vorstand oder nicht? Da scheuen Sie große Risiken, weil Sie viel zu verlieren haben. Wenn hingegen Ihr Vater schon Vorstandsmitglied eines großen Unternehmens war, dann sagen Sie sich: Ich weiß, wie es funktioniert. Vielleicht scheitere ich, aber das ist nicht die letzte Chance, sondern die kommt noch mal wieder.
Arbeiterkinder gehen also lieber kein Risiko ein, obwohl ihnen dieses Verhalten schadet.
Ja, aber das ist auch verständlich. Wenn Sie so viel Mühe aufgewandt haben, dann ist jeder weitere Schritt verbunden mit der Angst, alles, was man erreicht hat, wieder zu verlieren. Gerhard Schröder kommt aus einer Arbeiterfamilie und er sagte selbst als Bundeskanzler noch: Jeden Tag begleite ihn diese Angst, weil er wisse, wie tief er abstürzen könne.
Er wirkte als Kanzler aber sehr selbstsicher.
Schröder ist eine jener Ausnahmen, die es immer gibt. Aber viel einfacher ist es, wenn Sie das soziale Milieu schon aus der Kindheit kennen. Dann gewinnen Sie automatisch eine größere Selbstsicherheit. Für die Wirtschaft ist das besonders wichtig, weil Sie da in einen Bereich aufsteigen, der für Normalsterbliche unerreichbar erscheint, etwa in die Vorstände großer Dax-Unternehmen. Wenn Sie dieses soziale Milieu aus der Familie kennen, dann bewegen Sie sich auf vertrautem Terrain. Dadurch sind Sie ungezwungen und locker. Das macht Sie denen, die Ihnen da im Vorstellungsgespräch gegenüber sitzen, sympathisch. Es kommt drauf an, dass man denen ähnlich ist, die entscheiden.
Wer ist das?
Zwei Drittel der deutschen Elitemitglieder kommen aus Familien, die zu den oberen drei bis vier Prozent der Bevölkerung zählen. Sozial am exklusivsten ist die Wirtschaft, wo vier von fünf Spitzenvertretern aus diesem schmalen Segment der Gesellschaft stammen. Da sitzen seit Jahrzehnten Männer mit bestimmten Verhaltensweisen, mit einer bestimmten Art, zu reden. Wenn Sie aus einer Arbeiterfamilie kommen, haben Sie natürlich im Verlauf Ihrer Karriere schon das eine oder andere mitbekommen, aber Sie haben das nicht so verinnerlicht wie jemand, der damit aufgewachsen ist. Zudem bleibt immer die Angst, nicht dazuzugehören. Diese Angst lässt Sie verkrampfen.
Hinzu kommen noch die vielen ungeschriebenen Regeln, um zur Elite zu gehören.
Es gibt für alles Mögliche Codes: was man anzieht, welche Hobbys man pflegt, wie man in einen Raum reingeht, wie man redet. Die müssen Sie aber nicht alle sklavisch befolgen! Wenn Sie das von Kindesbeinen an kennen, wissen Sie auch, wo Sie abweichen können. Für die Elite in meiner Altersgruppe spielten bildungsbürgerliche Hobbys eine große Rolle. Wenn man aber einfach sagte: Oper interessiert mich nicht, obwohl das einen hohen Stellenwert hat, dann drückt man damit aus: Ich weiß, dass es wichtig ist, aber es ist meine persönliche Entscheidung, dass es mich nicht interessiert. Das ist besser, als wenn man sich um eine klare Aussage drückt aus Angst, etwas Falsches zu sagen und irgendeinen Code zu verletzen.
Ist das Leistungsprinzip eigentlich nur eine große Illusion?
Die Angehörigen der Elite, das sind keine Nieten in Nadelstreifen. Das sind Leute, die leisten schon etwas. Die haben einen Hochschulabschluss, in der Regel auch mit guten Noten, die arbeiten ihre 60 oder 70 Stunden pro Woche. Aber das trifft auch auf andere zu. Das Ausschlaggebende, weshalb sie sich durchsetzen, ist diese Qualität, zu wissen, worauf es ankommt.
Und worauf kommt es an?
Das sind viele Kleinigkeiten, die zu beachten sind. Wenn Ihr Vater etwa Professor ist, dann kennen Sie die Mechanismen der Hochschule. Wenn Sie einen Aufsatz in einer bestimmten Zeitschrift veröffentlichen möchten, ist es zum Beispiel immer gut, Aufsätze aus dieser Zeitschrift zu zitieren. Das wissen Sie aber einfach nicht, wenn Sie aus einer Familie kommen, in der niemand eine Hochschule besucht hat.
Das kann man doch lernen.
Ja, allerdings kostet es viel Zeit, alle Mechanismen zu durchschauen. Sie haben als Arbeiterkind also schon einen Nachteil, was das Alter angeht. Ich hatte eine Doktorandin, die hat herausgefunden, dass von allen Professorengruppen die größte soziale Selektion bei den Juniorprofessoren zu verzeichnen ist. Weil die sich schon in frühem Alter als professorabel, wie das dann so heißt, präsentieren müssen. Wenn Sie selbst Professorenkind sind, wissen Sie, wie das geht. Außerdem wissen Sie, wo Sie publizieren müssen, auf welchen Tagungen Sie sich am besten präsentieren und wo sich das nicht lohnt. All diese Details verschaffen Ihnen einen Vorsprung.
Leistung ist also eher zweitrangig?
Sie müssen in der Regel schon Leistung bringen, nur so kommen Sie in die engere Auswahl für einen höheren Job. Aber am Ende entscheiden die Leute nach dem Bauchgefühl und das spricht immer für die Personen, die ihnen sehr ähnlich sind.
Wie gewinnen Sie eigentlich Ihre Erkenntnisse? Befragen Sie die Spitzenmanager und Politiker?
Im letzten Projekt ist es uns gelungen, einen nennenswerten Teil der deutschen Kernelite für einstündige Interviews zu gewinnen. Von den knapp 1.000 wichtigsten Personen haben wir mit 354 gesprochen, das ist ungefähr ein Drittel. Bei einer so exklusiven Runde ein sehr guter Prozentsatz.
Wer zählt denn zur Elite?
Das sind die Personen, die entweder qua Amt oder in der Wirtschaft auch qua Eigentum in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Dazu gehören vor allem Spitzenmanager und Politiker in Regierungsämtern, aber zum Beispiel auch hohe Verwaltungsbeamte, Bundesrichter, Chefredakteure großer Medien oder Präsidiumsmitglieder der großen Wissenschaftsorganisationen. Die Elite geht also quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche.
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