Das Erfolgsrezept besteht aus drei Begriffen: ehrenamtlich, gegen Vattenfall und Privatisierung. Wenn Melli auf den Straßen Berlins Unterschriften sammelt, weiß sie genau, womit sie die Leute kriegt. Es sind immer die gleichen Worte, die Ansprache hört sich dann so an: „Hallo, ich bin ehrenamtlich unterwegs. Es geht um den Strom, dass der nicht länger von Vattenfall privatisiert wird, sondern an die Stadt Berlin zurückgeht. Es handelt sich um ein Gesetzesvorhaben und wir haben noch drei Wochen Zeit, um 100.000 Unterschriften zu sammeln.“
Melli und ihre Freundin Judith sind extra aus Greifswald in die Hauptstadt gekommen. Eine Woche „Aktionsurlaub“, das verspricht der Jugendumweltverband BUNDjugend im Internet. Unterschriften sammeln von morge
erspricht der Jugendumweltverband BUNDjugend im Internet. Unterschriften sammeln von morgens bis abends, fünf Tage die Woche. Und natürlich auch am Wochenende. Alles freiwillig, ohne Bezahlung. Übernachten können die Aktivisten in einem alternativen Kultur- und Bildungszentrum am Rand von Berlin, offiziell als „Sammelcamp“ bezeichnet.Uni schwänzen ist okayEigentlich müssten Melli und Judith in der Uni sitzen und Vorlesungen in Deutsch und Geschichte anhören. Doch die beiden 23-Jährigen schwänzen für einen guten Zweck. Eine Woche geht das, erklären sie. Nun stehen sie vor einem Bio-Supermarkt in der Mittagssonne und sprechen Passanten an. Viele gehen vorbei. Wer stehen bleibt und zuhört, ist hinterher auch meist bereit, zu unterschreiben.Die Stromversorgung soll wieder von kommunalen Stadtwerken übernommen werden, verlangen die Organisatoren des Volksbegehrens „Neue Energie für Berlin“. Der Plan: Die Stadtwerke investieren dann in erneuerbare Energien und helfen einkommensschwachen Haushalten, Energie zu sparen. Auch das Stromnetz soll in die öffentliche Hand.Hundert Unterschriften pro TagDoch die Initiatoren haben ein Problem: Ihnen fehlen noch tausende Unterschriften. Die 100.000-Marke ist gerade geknackt, innerhalb von rund drei Wochen soll diese Zahl verdoppelt werden. Benötigt werden zwar nur 173.000 Unterschriften, aber diese müssen gültig sein: Nur wer seit mindestens drei Monaten in Berlin wohnt und deutscher Staatsbürger ist, wird offiziell gezählt.Melli und Judith haben sich ihr eigenes Ziel gesetzt: Hundert Unterschriften wollen sie heute sammeln. Täten es ihnen tausend andere Leute gleich, wären innerhalb von 24 Stunden genügend Unterschriften zusammen. „Wir sind den ganzen Tag auf den Beinen“, erklärt Judith. „Eigentlich wollten wir abends feiern gehen.“ Bisher waren sie aber jeden Abend zu müde. Wenn sie stattdessen noch im Biergarten waren, haben sie weiter gesammelt, erzählen sie – und bekamen es mit Typen zu tun, die Unterschrift gegen Handynummer tauschen wollten."Anzugmenschen" und vegane RestaurantsAuch sonst können sie von einigen Begegnungen berichten. In der Berliner Friedrichstraße haben sie etwa einen Vattenfall-Anwalt getroffen, der partout nicht unterschreiben wollte. Dort laufen aber auch sonst vor allem „Anzugmenschen“ herum, erzählt Judith enttäuscht. Im Stadtteil Prenzlauer Berg hingegen hätten viele bereits unterschrieben, auch keine optimalen Voraussetzungen für das Sammeln. Am erfolgreichsten waren die beiden Studentinnen in einem veganen Restaurant in Berlin-Friedrichshain, erzählen sie.Touristen meiden sie, deren Unterschrift ist hinterher schließlich ungültig. Parks suchen sie, ebenso wie andere Orte, an denen Menschen etwas Ruhe haben. Und bei Gruppen beobachten sie ein Schwarmverhalten. Wenn einer aus der Gruppe skeptisch ist, haben die Sammlerinnen verloren. Wenn aber einer unterschreibt oder schon vorher unterschrieben hat, kommen schnell einige neue Unterschriften hinzu.Betten und Küche für die AktivenJudith hat schonmal einen Tag lang bei einer Agentur gearbeitet, die für NGOs Mitglieder wirbt. Gefallen hat ihr das nicht, die meisten Passanten hätten sie abgewiesen. Für das Energie-Volksbegehren sammelt sie trotzdem gerne. „Die Leute sind offener, weil es nicht ums Geld geht“, meint sie.Judith ist Überzeugungstäterin. Nach der Schule hat sie ein Freiwilliges Ökologisches Jahr bei der BUNDjugend gemacht, über die hat sie jetzt auch von dem „Sammelcamp“ erfahren und ihre Freundin gefragt, ob sie mitkommen möchte nach Berlin. Das „Camp“ hat aber keine Zelte, sondern einige Räume in dem alternativen Kulturzentrum. Für die angereisten Aktivisten gibt es sogar Betten und eine große Küche.Die Listen auf den Küchentischen fehlenIm Aufenthaltsraum hängen Plakate gegen Castor-Transporte und staatlichen Rassismus, an der anderen Wand ein Stadtplan von Berlin. Darauf kleben knapp 40 bunte Punkte. An den roten und blauen Orten wurde bereits gesammelt, wobei es an den roten Orten besonders gut geklappt hat. Das heißt zum Beispiel 120 Unterschriften in fünf Stunden, alle zweieinhalb Minuten ein neuer Unterstützer. An den grünen Punkten könnte noch gesammelt werden.Fabian hat das Camp organisiert, er kommt aus dem Ruhrgebiet und engagiert sich dort im Verein „Mehr Demokratie“ für Volksbegehren und Mitbestimmung der Bürger. Er glaubt an das Ziel, in den kommenden Tagen noch die 100.000 Unterschriften zusammenzubekommen. Er vermutet viele Unterschriftenlisten auf den Küchentischen von Berlin. Wer Freunde und Bekannte unterschreiben lassen will, kann sich die Liste einfach im Internet ausdrucken – und später per Post an die Organisatoren des Volksbegehrens schicken. Fabian glaubt, dass die meisten Listen erst in den letzten Tagen zugesandt werden.Fabian steht quasi für den Erfolg des Volksbegehrens. Auch in Hamburg hat er ein „Sammelcamp“ organisiert, auch dort für die Rekommunalisierung der Stromversorgung. In der Hansestadt war das Volksbegehren erfolgreich. Nun wird am Tag der Bundestagswahl auch über die Stromversorgung abgestimmt. In Hamburg. Und vielleicht ja auch in Berlin.