Selbstjustizvollzug

Netzgeschichten Politiker lassen prüfen, ob man Fotos und Autokennzeichen von Freiern online veröffentlichen soll. Doch die Gefahren von Internetprangern sind erwiesen, ihr Nutzen nicht

Beleidigt, beworfen, bespuckt ­­– wer im Mittelalter am Pranger stand, musste sich einiges gefallen lassen. Das digitale Zeitalter kennt den Internetpranger. Eine klasse Idee finden das einige Lokalpolitiker in Berlin. Das Bezirksamt Schöneberg-Tempelhof soll prüfen, ob es möglich ist, Fotos oder Autokennzeichen von Freiern „auf einer öffentlichen Internetplattform für alle Interessierten zur Verfügung zu stellen“.

Live-Übertragungen vom Straßenstrich sind schon aus datenschutzrechtlichen Gründen unwahrscheinlich. Trotzdem ist der Vorstoß erschreckend, denn er wird immerhin von SPD- und CDU-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung getragen. Bislang hatten Vorschläge, Internetpranger einzurichten, in Deutschland vor allem den Zweck, das Sommerloch zu füllen. So plädierte etwa der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft in Bild für ein öffentlich zugängliches Online-Register für Schwerverbrecher.

Liste mit 29 Namen

Die Nebenwirkungen eines Onlineprangers lassen sich in den USA beobachten, wo viele Bundesstaaten Daten über Sexualstraftäter, die ihre Strafe verbüßt haben, veröffentlichen. Beschimpfungen und Bedrohungen der Angeprangerten sind noch milde Formen der Selbstjustiz. Manche haben Wohnung oder Job verloren, zwei Männer wurden umgebracht. Der Mörder trug eine Liste mit 29 Namen und Adressen aus dem Internet bei sich. Doch der Pranger ist in den USA höchstrichterlich abgesegnet. Informationsfreiheit und der Schutz der Öffentlichkeit werden höher als die Rechte des Einzelnen bewertet.

In Deutschland ist man von solchen Zuständen weit entfernt. Aufsehen erregte vor zwei Jahren die Website www.rottenneighbor.com, zu deutsch: Mieser Nachbar. Hier konnte über nervige, gewalttätige, asoziale Mitmenschen gelästert werden, mit Adresseintrag und Bild – während man selbst anonym bleiben durfte. Deutsche Behörden sprachen vom „Super-Gau für den Datenschutz“, konnten aber nichts tun, der Betreiber der Seite kam aus den USA. Inzwischen ist die Webseite offline. Einen anderen Internetpranger gibt es aber bis heute: Der Berliner Bezirk Pankow veröffentlicht regelmäßig eine Liste mit unhygienischen Restaurants und beruft sich auf das Verbraucherinformationsgesetz. Demnach hat jeder Bürger Anspruch auf Auskunft über die Ergebnisse unangekündigter Restaurantkontrollen. Nur: Es gibt einen Unterschied zwischen Restaurant und Privatperson. Auch wenn es verlockend erscheint: Im Internet muss nicht alles veröffentlicht werden. Es wird Zeit, das Netz zu zivilisieren.

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