Strategisches Wählen 2.0

Europawahl Die Drei-Prozent-Hürde wurde gekippt, auch Kleinparteien können es nach Brüssel schaffen. Was ist nun zu beachten, wenn ich meine Stimme taktisch klug einsetzen möchte?
Strategisches Wählen 2.0

Bild: imago / imagebroker

Das strategische Wählen hat keinen guten Ruf. Ohne Ideale, ohne Prinzipien! In Wirklichkeit sind wir moralisch geradezu verpflichtet, strategisch zu wählen. Das kann heißen, der Partei die Stimme zu geben, mit der ich am meisten Gemeinsamkeiten habe. Das kann aber auch heißen, einer anderen Partei die Stimme zu geben – wenn auf diese Weise meine Werte und Überzeugungen am Ende ein größeres Gewicht in der Politik bekommen. Es geht also nicht um den Verrat an den politischen Idealen. Im Gegenteil. Es geht darum, meinen Idealen die größtmögliche Geltung zu verschaffen.

Eigentlich sollte es dazu nicht nötig sein, eine andere Partei zu wählen als diejenige, die meinen Vorstellungen am meisten entspricht. Das meinen zumindest viele Menschen. Und in vielen Fällen ist das sicherlich auch richtig. Nehmen wir die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl. Wer seine Lieblingspartei wählt, handelt möglicherweise unklug – wenn diese Partei wegen der Hürde keine Chance hat, ins Parlament einzuziehen. Ohne die Klausel gäbe es das Problem nicht. Es ist daher richtig, sich für deren Abschaffung einzusetzen. Es ist jedoch falsch, diejenigen moralisch zu verurteilen, die die Existenz der Hürde zur Kenntnis nehmen und in Anbetracht dessen ihr Kreuz an einer anderen Stelle setzen.

Aber vielleicht lässt sich so zumindest ein Stück weit der schlechte Ruf des strategischen Wählens erklären: Es ist häufig eine Folge von Regeln im Wahlsystem, die als unsinnig empfunden werden.

Faktische 0,6-Prozent-Hürde

Wie sieht es bei der Europawahl am kommenden Wochenende aus? Zweifelsfrei sind manche Empfehlungen, die zur Bundestagswahl gegeben wurden, bei der nun anstehenden Wahl sinnlos. So gibt es zum Beispiel keine Direktkandidaten. Bei der vergangenen Bundestagswahl konnte es klug sein, als Linker einem CDU-Bewerber die Stimme zu geben, was jedoch fast niemand verstanden, geschweige denn öffentlich kommuniziert hat.

Auch die Fünf-Prozent-Hürde verleitet zu strategischem Wählen. Kleine Parteien ohne Chance bekommen keine Stimme, dafür aber diejenigen, die knapp unter der Hürde liegen – mit der Stimme können sie dann ins Parlament gehievt werden, die Stimme hat also größeres Gewicht. Aber eine solche Klausel gibt es bei der Europawahl in Deutschland nicht.

Das sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob ein von der Lieblingspartei abweichendes Wahlverhalten bei der Europawahl komplett hinfällig ist. Schließlich könnten sich neue Möglichkeiten des strategischen Wählens ergeben, zum Beispiel durch die faktische „0,6-Prozent-Hürde“. Deutschland schickt 96 Abgeordnete nach Brüssel. Für einen Platz ist also ungefähr ein Prozent der Stimmen nötig. Weil die Wahlergebnisse auf- und abgerundet werden, reichen womöglich 0,6 Prozent der Stimmen, um einen Sitz im Parlament zu erhalten.

Mehrere kleine Parteien machen sich nun Hoffnungen. Es gibt zwar keine repräsentativen Umfragen, die zeigen, wer sich in der Nähe der 0,6-Prozent-Schwelle befindet. Aber das Ergebnis der vergangenen Europawahl 2009 lässt erahnen, dass es in diesem Jahr, nach Abschaffung der Fünf- und Drei-Prozent-Hürde, voraussichtlich mehrere kleine Parteien nach Brüssel schaffen werden. Damals wären ohne die Klausel sieben weitere Parteien ins Parlament eingezogen: Freie Wähler, Republikaner, Tierschutzpartei, Familien-Partei, Piraten, Rentner-Partei und die Ökologisch-Demokratische Partei.

Über die Schwelle

Ist es nun taktisch klug, den kleinen Parteien die Stimme zu geben – oder gerade nicht? Strategische Wähler wollen wissen, ob die Stimme verschwendet ist, weil die Partei sowieso unter 0,6 Prozent bleibt. Allerdings kann auch die Stimme für eine große Partei vergeudet sein, wenn die Stimme nicht dazu führt, dass die Partei über die Schwelle für einen zusätzlichen Sitz kommt.

Man muss sich also vorstellen, dass es viele Wähler gibt, die unabhängig von taktischen Überlegungen ihr Kreuz setzen. Hinzu kommen dann noch die Stimmen der strategischen Wähler. Die Frage ist, ob diese Stimmen die Partei über eine Schwelle für einen zusätzlichen Sitz hievt. Durchschnittlich sind dafür etwa 0,5 Prozent nötig, weil die Schwellen jeweils ein Prozent auseinander liegen.

Wenn eine kleine Partei jedoch von ihren nicht-strategischen Wählern zwischen 0,1 und 0,6 Prozent der Stimmen bekommt, sind durchschnittlich weniger als 0,5 Prozent der Stimmen nötig, um über die Schwelle zu gelangen: Bei 0,1 Prozent wären 0,5 Prozent nötig, bei 0,2 Prozent wären 0,4 Prozent nötig, etc.

Trotzdem muss es nicht klug sein, dieser Partei die Stimme zu geben. Schließlich ist nur schwierig zu erkennen, wie groß das Potential strategischer Wähler ist und ob dies ausreicht, um einen Sitz im Parlament zu holen. Jedoch ist zu bedenken: Je kleiner das Potential, desto wichtiger die eigene Stimme, desto größer kann ihr Gewicht sein.

Allerdings: Sobald eine Partei von ihren nicht-strategischen Wählern etwas mehr als 0,6 Prozent der Stimmen bekommt, sind die Stimmen der strategischen Wähler nutzlos (soweit sie nicht zu einem zweiten Sitz führen). Zudem liegt die Schwelle nicht genau bei 0,6 Prozent, es können auch 0,7 oder 0,8 Prozent sein. Das hängt von den Ergebnissen aller Parteien ab und die lassen sich noch schwerer vorhersagen.

Unpräzise Umfragen

Prinzipiell stimmt es schon: Wenn eine Partei in den Umfragen nahe der Schwelle liegt (knapp drunter oder knapp drüber), ist es wahrscheinlicher, dass die eigene Stimme den Ausschlag gibt. Dazu müssten die Umfragen allerdings wahnsinnig präzise sein und die Nachkommastellen angeben. Derzeit jedoch werden die kleinen Parteien in den Umfragen nicht einmal namentlich aufgeführt, weil zu wenig Menschen befragt werden, als dass man gesicherte Aussagen über die Stärke der kleinen Parteien treffen könnte.

Selbst wenn es die präzisesten Umfragen gäbe: Niemand weiß, ob sie eine Woche später immer noch so aussehen und wie groß das Potential strategischer Wähler ist. Immerhin: Bei den großen Parteien dürften diese Unsicherheitsfaktoren größer sein, weshalb sich dort eine strategische Stimme weniger lohnt. Die kleinen Parteien hätten also einen Vorteil.

Solange aber die Umfragen und die Ergebnisse der vergangenen Wahlen nur ungefähre Werte für diese Wahl liefern, ist das strategische Wählen aufgrund der 0,6-Prozent-Hürde mit vielen Unsicherheiten behaftet.

Zumal die Annahme falsch ist, dass die Umfragen lediglich das Verhalten der nicht-strategischen Wähler abbilden und ich das Ergebnis anschließend verändern kann. In Wirklichkeit werden natürlich auch die Stimmen der strategischen Wähler erfasst (sofern sie den Umfrageinstituten wahrheitsgemäß Auskunft geben).

Was wäre zum Beispiel passiert, wenn am Tag vor der Landtagswahl in Niedersachsen noch neue Umfrageergebnisse veröffentlicht worden wären? Die letzten Ergebnisse wenige Tage vorher hatten eine schwache FDP gezeigt, die an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern drohte. Am Wahltag bekamen die Liberalen dann fast zehn Prozent der Stimmen. Hätte eine Umfrage am Tag zuvor die FDP mit zehn Prozent gezeigt, hätten einige CDU-Sympathisanten vielleicht doch wieder davon abgesehen, der FDP ihre „Leihstimme“ zu geben. Alles ziemlich unvorhersehbar.

Wenn es eine Fünf- oder Drei-Prozent-Klausel gibt, kann es trotz der Unsicherheiten klug sein, zu versuchen, eine Partei über die Hürde zu hieven. Das liegt aber daran, dass mit der Stimme nicht die Schwelle zu einem zusätzlichen Parlamentssitz erreicht werden soll, sondern die Schwelle zu gleich mehreren Sitzen. Der in Aussicht gestellte Vorteil ist also weit größer.

Andere Strategie

Gibt es derzeit also gar keine Gründe, als strategische Wählerin den kleinen Parteien eine Stimme zu geben? Doch! Sie können ein Korrektiv für die großen Parteien sein. Wenn ich zum Beispiel der SPD nahe stehe, aber mir dort der Tierschutz zu kurz kommt, kann ich die Tierschutzpartei wählen, auch wenn ich ihre Positionen vielleicht zu radikal finde – in der Hoffnung, dass die SPD dann mit der Tierschutzpartei zusammenarbeitet und ihr ein Stück entgegenkommt. Oder dass die SPD in der Tierschutzpartei eine neue Konkurrenz entdeckt und sich aus dem Grund eine ambitioniertere Tierschutzpolitik vornimmt.

Wer hingegen einfach nur die Stimme abgibt, ohne sich strategische Gedanken zu machen, der lässt zu, dass die eigene Stimme einen geringeren Einfluss hat als sie eigentlich haben könnte.

Lesen Sie als Ergänzung zu diesem Text auch „Die Vorzüge der kleinen Parteien“

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